Autor: Sebi

  • Unbenannter Beitrag 397

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    Über Hamburg hing gefrorener Nebel, die Elbe erinnerte mich an einen fest verschlossenen silbernen Reißverschluss, der zwischen den Ufern aus Stein lag.  Es war kalt.  Aus den Mündern der Hanseaten entwichen weiße Atemwolken. Hinter dem blauen Metallbauzaun am Ballindamm wummerte hartnäckig eine Dampfpresse Stahlträger in die entblößte Erde. Wundmale des Wahnsinns.

    Ein mürrischer Polizist verteilte Strafzettel, mal hier einen mal, dort einen.
    Guck mal den Polizisten, sagte ich zu Luise.
    Was ist mit dem, fragte Luise.
    Nichts, sagte ich, meine Großmutter hat immer gesagt, von denen kann es gar nicht genug geben.
    Sag ihm das, forderte mich Luise auf. Dann freut er sich. Aber ich wette du traust dich nicht.
    Du mit deinen Mutproben, sagte ich, das nervt auch langsam.
    Dich muss man auf Trab halten Freundchen, sonst schläfst du mir noch im Gehen ein.
    Ja, ja, wenn ich da noch an Dänemark denke. Da wurde mir endgültig klar, dass du leicht irre bist.
    Hat doch aber Spaß gebracht. Jetzt sag bloß noch, dass das keinen Spaß gebracht hat.
    Schon. Aber trotzdem.

    Es war Sommer. Sommer in Dänemark. Wir lagen leicht bekleidet und ebenso leicht gelangweilt am Strand. Das Meer wirkte auch leicht gelangweilt und warf beleidigt Wellen an den Strand.
    Was will uns das Meer wohl damit sagen, überlegte ich.
    Das wir uns ins Wasser schmeißen sollen?

    Luise trug einen einteiligen knallroten Badeanzug, ein knapp geschnittenes Teil, indem sie sich wohl fühlte und andere verrückt machte. Besonders mich.

    Ich frage mich, was die sich eigentlich denken, sagte ich.
    Wer sind bitteschön die?
    Die Modemacher, besonders die, die Badeanzüge für die weibliche Welt entwerfen.
    Wieso?
    Na ja, wollen die mich verrückt machen?
    Genau, du hast es mal wieder erfasst. Die wollen dich verrückt machen, indem sie dich zwingen mich andauernd anzuschauen. Du sollst vor lauter Schaulust den Verstand verlieren. Nicht mehr weggucken können. Klebeblick nennen wir das.
    Und wer ist jetzt wir?
    Wir Frauen.
    Verstehe.
    Meinen Badeanzug hat übrigens eine Frau entworfen, eine Japanerin.
    Das hat sie ja sauber hinbekommen, lobte ich

    Das Meer warf weiter beleidigt Wellen an den Strand, so Kinderwellen mit weißem Schaumrand. Am Horizont lag unbeweglich ein Containerschiff.
    Sieht aus wie ein Stück Seife, sagte ich.
    Finde ich nicht, eher wie ein grauer Schuhkarton.
    So kantig und rechteckig.
    Was der wohl geladen hat. Ich meine, was sich wohl alles in den Containern befindet.
    Sicher nur Badeanzüge aus Japan.

    Wie kommt diese Japanerin eigentlich dazu, derartig sexistische Badenzüge zu entwerfen. Ich meine, was geht im Kopf dieser Frau vor. Welche Absicht steckt dahinter. Ich meine, wenn ich zum Beispiel zum Bäcker gehe, dann habe ich ja eine Absicht. Ich will ein Brot kaufen, weil ich Hunger habe. Oder wenn ich in eine Buchhandlung gehe, dann deswegen, weil ich ein Buch kaufen möchte. Und in ein Schuhgeschäft gehe ich, um einen Schuh zu kaufen.

    Ja und? Wohin führt Aussage?

    Wenn sich Luise gelangweilt fühlte, sprach sie absichtlich so als ob sie kein richtiges Deutsch könne. Dann machte sie auf Rumänin oder Russin, jedenfalls etwas ostisches. Das rollende R fand sie dabei besonders lustig. Aber da konnte ich mithalten.

    Aussage will sagen, dass Japanerin Absicht verfolgt. Wie alle Asiaten. Asiate verfolgt immer Absicht. Asiate machen nichts ohne Absicht. Je mehr Absicht, desto besser, desto geheimnisvoller ist es. Undurchschaubar wie Dschungel in Vietnam. Ich vermuten, Japanerin hat zwei Absichten. Motiv undurchsichtig wie Monsunregen.

    Jetzt komm mal runter von deinem Asiengefasel, sonst du bekommen Ohrfeige.

    Ja, Luise verpasste mir manchmal einen verspielten Wangenstreich. Das gebe ich hier zu. Besonders gerne machte sie das in der Öffentlichkeit. Muss wohl so ein Frauending sein. Und wieder klatschte das Meer eine Ladung Wellen an den Strand. Das  grünliche Wasser sabberte den Sand nass, so als müsse der in regelmäßigen Abständen gesprengt werden. Die Natur zeigt ja oft gerade zu lächerliche, ja alberne Angewohnheiten. Die Ohrfeigen von Luise fühlten sich sanft und trotzdem streng an, um das Thema noch einmal aufzugreifen. Also mit häuslicher Gewalt hatte das nichts zu tun.

    Ich würde gerne wissen, ob diese Japanerin diese Badeanzüge entwirft, um bewusst Frauen zu Sexualobjekten zu machen. Wenn das so wäre, würde sie diese Badeanzüge aus dem Blickwinkel eines Mannes schneidern lassen. Oder aber sie will mit Absicht die Macht zeigen, die eine Frau über einen Mann hat, indem sie sie diese Badeanzüge tragen lässt, aus einem Gefühl des Stolzes. Um damit dem Mann seine Abhängigkeit von der Frau spüren zu lassen. Das ist alles sehr manipulativ durchdacht, eben asiatisch. Das Bewusstsein wird so durcheinander gebracht, dass es nicht mehr weiß, woran es ist. Besonders eben das männliche.

    Geschieht euch ganz recht. Ihr habt uns über Jahrtausende unterdrückt. Jetzt sind wir mal dran.

    Und das Meer? Was sagte das Meer dazu? Das Meer schlappte wieder eine Ladung Kinderwellen ans Land. Das Geräusch, welches dabei entstand war neckisch klatschend, schelmisch, wie die Wangenstreiche von Luise. Andere küssen sich.

    Wo bloß dieses ganze Wasser herkommt, wollte ich wissen.
    Aus der Leitung bestimmt nicht, sagte Luise. Soll Wasserdampf sein. Oder aus Wasserdampf entstanden sein, weil Wasser ja nicht Dampf, aber aus heißes Wasser entsteht Dampf und er schlägt sich nieder und wird wieder zu Wasser. Und in dem Wasser kochen Asiate immer zu Reis. Die Frage ist nun, ob Dampf aus heißem Wasser die selbe Menge macht wie vorher Wasser da war in Behälter. Weil irgendwann müssen Meer ja mal leer sein. Schmeißt immer Wellen an den Strand und wird trotzdem nicht alle. Wie kann sein das? Du mich sagen. Ich dummes kleines Mädchen.

    Luise räkelte sich auf der Decke an mich ran. Ich legte meinen Arm um sie, ich meine, ich legte einen Arm um sie, ich habe ja zwei davon, da sollte man schon bei der Wahrheit bleiben, ihr verpflichtet sein und dann muss ich auch sagen, nein gestehen, das meine Hand ihren Rücken streichelte und dann natürlich auch eine fast nackte Pobacke berührte, den die Japanerin hatte da ganz schön am Stoff gespart, vielleicht, weil sie wusste, dass Luise und ich hier am Strand in Dänemark liegen würden, vielleicht weil die Japanerin mit ihrer östlichen Weisheit wusste, was sie für ein Glück mit ihrem Badeanzug schenken würde. Frauenglück, von Frau zu Frau gereicht sozusagen. So wie Männer andere Männer glücklich machen, weil sie Sportwagen entwerfen. Oder so.  Luises Haut fühlte sich an als sei sie mit einem speziellen Pflegemittel für Karosserien poliert worden. Und das Meer beehrte uns aufs Neue mit einer Ladung Kinderwellen. Wie überhaupt diese Ferien mit Luise etwas kindliches hatten.

    Komm, rief sie und sprang auf. We go swimming.

    Das Meer schlappte schmatzend und lockend Kinderwellen an den Strand. Der Sand war warm, der Himmel blau, das Seegras wiegte sich im Wind.

    Warum nicht, sagte ich und erhob mich ebenfalls.
    Ich möchte, dass du mir einen Gefallen tust, sagte Luise. Während sie sich ihr Haar zu einem Knoten zusammen band.
    Soll ich das Meer austrinken?
    Nein, du sollst nicht das Meer austrinken sondern nackt baden
    Was?
    Ja, ich möchte, dass du nackt mit mir badest. Du nackt, aber ich im Badeanzug. Das hat doch was. Das wirkt so emanzipiert.
    Findest du?
    Du traust dich nicht.
    Kinder baden nackt, sagte ich.
    Schwachsinn. Erwachsene auch. Außerdem weiß ich wie du nackt aussiehst. Also wo ist das Problem? Ich tu dir ja auch jeden Gefallen. Wenn du sagst, zieh bitte das rote Kleid an, dann mache ich das, um dir eine Freude zu machen. Wenn du sagst, kannst nicht mal wieder die schwarze Unterwäsche anziehen, dann ich das machen. Und warum ich das machen? Weil ich dich libben. Und heute möchte ich, dass du mir eine Freude machst, indem du nackt badest. Das gibt mir so ein herrliches Gefühl der Macht über dich. Mein Freund ist mir hörig. Mein Freund gehorcht. Er tut was ich sage. Mein Freund ist ein Maso. Also runter mit der Badehose. Die passt auch gar nicht zu dir, die sitzt schlecht.

    Und wenn mich jemand sieht?
    Hier sehe nur ich dich. Hier ist sonst niemand. Links leeres Strand, rechts leeres Strand. Ende der Durchsage.

    Ich wäre überhaupt immer so prüde, das wolle sie mir jetzt einmal abgewöhnen. Und wenn ich kooperieren würde, dann würde sie mich nachher zum Essen einladen, zum Chinesen am Hafen. Zur Belohnung. Sie wolle mit einem nackten Mann baden, das habe sie sich schon immer gewünscht.

    Wenn ich das gewusst hätte, sagte ich, wäre nicht mit dir in den Urlaub gefahren.

    Du stehen unter Aufsicht. Du müssen gehorchen. Du mein Gefangner.

    Irgendwie stimmte das mit dem Gefangnen.  Ich zog mir die Badehose aus, warf sie wütend auf die Decke, auf der wir gerade noch gelegen hatten und drehte mich zum Meer. Und das Meer? Was machte das Meer. Es warf schlapperige Kinderwellen an den Strand. Die Sonne schien, es war warm und ehe ich es mich versah gab mir Luise einen Klaps hinten drauf. Auf geht’s, rief sie und stürzte sich ins Meer und ich rief, na warte und stürzte hinterher.

    Später im Chinarestaurant sagte sie zu mir, das hätte ich gut gemacht. Und zur Kellnerin sagte sie, sie habe mich, ihren Freund, dazu gebracht vor ihren Augen nackt zu baden.
    Oh, sagte die Kellnerin, und waren Sie auch nackt.
    Ich, nein, ich trug einen Badeanzug.

    Das meine ich mit Luise und ihren Mutproben. Ich ging also zu dem Polizisten, der gerade damit beschäftigt war einen Strafbefehl hinter den Scheibenwischer eines schwarzen Geländewagens zu klemmen.
    Darf ich Ihnen etwas sagen, fragte ich.

    Was denn, sagte der Polizist ohne mich anzuschauen. Er hatte irgendwie Mühe seinen Strafbefehl zwischen Scheibenwischer und Scheibe zu bekommen.
    Von Ihnen kann es gar nicht genug geben.
    Jetzt schaute er mich an. Kleine harte Augen. Die glommen wie glühende Kaffeebohnen.
    Ist das Ihr Fahrzeug?
    Meins? Nein.
    Sie stehen hier im absoluten Halteverbot.
    Als Fußgänger?
    Zeigen Sie mir mal Ihren Führerschein.
    Warum? Braucht man jetzt auch als Fußgänger einen Führerschein? Ich wollte Ihnen nur sagen, dass es von Ihrer Sorte gar nicht genug geben kann.
    Wer sagt das?
    Meine Freundin. Die steht da drüben. Ja, genau die mit dem hellen Mantel. Der gehört das Auto.
    Die soll mal herkommen.
    Ich winkte Luise. Du möchtest mal herkommen, rief ich.
    Luise kam, sah und staunte.
    Ist das Ihr Fahrzeug, fragte das Kaffeebohnenauge,
    Mein Fahrzeug? Niemals. So etwas fahre ich nicht. Ich fahre einen Mini. Einen Cooper. Aber der parkt in der Tiefgarage.
    Aber der Herr hier behauptet, dass sei Ihr Fahrzeug.
    Ach, der. Der hat gerade Freigang.
    Freigang?
    Ja, der hat einen leichten Dachschaden, sagte Luise. Psychiatrische Abteilung Eppendorf. Ich muss mit dem spazieren gehen. Am liebsten würde ich ihn ja an die Leine nehmen, aber das wäre ja Freiheitsberaubung. An die Leine nehmen, wandte sie sich an mich, hast du gehört? Wie einen Hund.
    Soll ich jetzt bellen, fragte ich.
    Gehen Sie weiter, sagte der Polizist, Sie behindern einen Beamten im Dienst.
    Machen wir. Komm Fiffi, bei Fuß.

    Wir gingen zu einem Vortrag in die Kunsthalle. Wir saßen auf billig gefertigten Klappstühlen, die bei jeder Körperbewegung quietschten Der Raum lag im Halbdunkeln. Vorne stand an einem Pult der Direktor der Kunsthalle. Um seinen runden Kopf hatten sich die Locken wie Lorbeer gelegt, silbern und ein wenig verrutscht. Es sah aus als habe sich der Direktor diesen Kranz selbst zurecht gekämmt. Für Verdienste, die die jetzt Lebenden noch nicht in der Lage waren zu bemerken. Da kann man schon manchmal beleidigt gucken. So allein unter lauter Idioten. Ich kann das gut verstehen, lieber Herr Direktor. Mir geht es auch so. Der Direktor hatte den Kreis der Kunstinteressierten, zu dem auch Luise und ich gehörten (Jahresbeitrag 110.€) eingeladen, um den neusten Ankauf des Museums vorzustellen. Das Bild sei ein Stromschlag, rief der Direktor und wälzte seinen Leib wie eine Robbe am Strand nach links und rechts, eine Offenbarung, ein Zeichen, eine Deutung, eine Vision, eine Botschaft.

    Fortsetzung folgt.

    © Constantin Hahm 2015

     

  • Unbenannter Beitrag 190

    c-hahm-aluherz-vign400Heute Morgen, als ich benommen von einer gedanklich wilden Nacht an meinen Briefkasten wankte, fand ich in ihm neben der Stromrechnung einen Brief vom Kunstverein in H. Und dieser Kunstverein lud mich zu der Ausstellung ‚Ich und meine Kindheit’ ein, also, eine Frau V. fragte mich, ob ich zu diesem Thema etwas beisteuern könnte. Wollte. Hätte. Haben würde können. Bis zum … in acht Wochen. Mit freundlichen Grüßen.

    Gute Frau V. antwortete ich im Geiste, während ich über die Dächer des Ortes einen prüfenden Blick in den Himmel warf und Zeuge wurde wie sich zu dieser frühen Stunde bedrohliche Morgenwolken positionierten, fast so, als handele es sich um die Sicherung eines ganzen Frontabschnittes, der sich vermutlich von U. bis B. erstreckte. Zum Schutz vor verseuchten Sonnenstrahlen. Von denen mein Nachbar von oben wie ich ihn nenne, schon welche abbekommen haben musste, denn wie sonst sollte ich es mir erklären, dass ein pensionierter Polizeibeamter gebückt durch seine Blaukohlreihen krabbelte und offenbar Ungeziefer in einen Eimer warf? Gute Frau V. sagte ich gönnerhaft, ich habe zu jedem Thema Bilder. Entweder schon gemalt oder aber noch zu malen. Ich und meine Kindheit. Ja, soll ich einen Teddybären malen? Oder was?

    Diese arrogante Einstellung sagt eigentlich alles. Anstatt sich über die Einladung zu freuen, mäkelt der Herr Künstler wieder rum.

    Nein, da muss ich widersprechen. Ganz so ist es nicht, denn ich weiß von mir, dass ich in alle meine Bilder immer eine Prise Kindheit gemischt habe. Vielleicht meint die Frau V. das?  Oder aber, überlegte ich weiter, während ich die elegant geschwungene Eingangstreppe zu meinem Atelier hinauf schritt, oder aber ich könnte neue Bilder, zu dem, wie ich meine leicht abgedroschenen Thema malen. Natürlich war mir, während ich in meiner Küche einen Schnellkaffee ansetzte, welchen ich noch mit drei Teelöffeln Weißzucker aufpeppte, natürlich war mir nach dem bisherigen Verlauf meiner künstlerischen Tätigkeit klar, dass alles was ich bisher gemalt hatte erst in hunderten von Jahren verstanden werden würde.

    Werden würde. Im Badezimmer. Während des Zähneputzens. Mit dem Gesicht im Spiegel. Da kam mir meine ganze Kindheit richtig hoch. Bei diesem Anblick jetzt. Mit Schaum im Mund und einer elektrischen Zahnbürste. So wie ich diese Maschine zum Einsatz bringe, kann ich froh sein, wenn mir nicht Zahnteile in das Waschbecken fallen. So die Zähne zu schruppen. Der reinste Fanatismus ist das. Aber wie gesagt. Auch heute kein Zahnfleischbluten und somit auch keine Gebissbauteile im Waschbecken.

    Aber was hat das mit meiner Kindheit zu tun?

    Nachdem ich alle notwendigen Reinigungs- und Wartungsarbeiten an meinem Körper durchgeführt hatte, kippte ich in der Küche die Tasse Schnellkaffee runter. Danach bereitete ich mich auf das Malen vor. Diese Vorbereitungen ähnlich denen des Formeleinsfahrers K.R.. Der zwängt sich nämlich auch nicht einfach in seinen Boliden und rast los. Nein, der zieht sich seine Kombination an, die Stiefel, die Handschuhe, den Helm. Ich ziehe mir auch meine Kombination an. Und während K.R. mit prüfendem Blick die Reifen an seinem Fahrzeug betrachtet, reinige ich meine Pinsel. Was dem K.R. die Reifen sind, sind mir die Pinsel. Nach genauer Betrachtung der Wetter und Lichtverhältnisse gehen wir an den Start. K.R. mit seinem Boliden und ich mit den Farben Preußischblau, Ultramarinblau, Kadmiumrot, Kadmiumgelb und Titanweiß.

    Countdown und ab die Farbe. Das muss einfach flutschen. Sagt sich leicht. Eine grundierte Leinwand ist schon mit dem Belag einer Rennstrecke zu vergleichen. Eine Leinwand kann zum Beispiel feine Unebenheiten wie Knotenbildungen  im Fadenlauf aufweisen, die man zunächst gar nicht bemerkt hat. Erst später beim Pinselstrich stören diese Buckel enorm, denn diese Hindernisse kosten Zeit. Die  Pinselspitze läuft aus der Bahn und beschädigt schon fertig gestellte Bildteile, die dann wieder restauriert werden müssen. Das wird besonders mühsam, wenn man sich in einem ganz anderen Farbspektrum bewegt hat. Dann muss man quasi an die Box und alles sorgsam durchreinigen.

    Das kann schon  sehr wohl das frühzeitige Aus bedeuten. Nicht zu unterschätzen sind auch Wetterschwankungen während des Rennens oder Malens.

    Mir ist schon kurz vor der Zielgeraden ein frisch und flott gemaltes Großformat (180×200) von der Staffelei gekracht, weil ich wohl aus Erschöpfung beim Lüften nicht daran gedacht hatte, dass sich ab Windstärke 4 eine gewaltiger Luftsog in meiner bescheidenen Bleibe entwickelt. Die Entstehung dieses Spiralwirbels ist nicht im Übersinnlichen zu suchen sondern erklärt sich aus der Tatsache, dass die Fenster, die ich fahrlässiger Weise geöffnet hatte etwa dreißig Meter von einander entfernt sind. Kanale Luftverwirbelung sagen die Fachleute dazu.

    Der Wind riss mein zu 90% fertiges Bild von der Staffelei und schleuderte es wutentbrannt als sei das alles der letzte Mist mit der Farbseite über meinen verstaubten Steinfußboden. Nachdem ich das Bild umgedreht hatte sah ich, dass mein Tageswerk so kurz vorm geglückten Ende vernichtet war und bei noch genauerer Betrachtung entdeckte ich nicht zu reparierende Beschädigungen in anderen Bildbereichen.

    Die grüne Krone des Apfelbaumes, an der ich seit vier Stunden gesessen hatte war zerschlirrt und hing wie umgebrochen auf einem der braunroten Dächer der zurückliegenden Häuser. Der Gartentisch mit dem gepunkteten Schirm schien umgestürzt, jedenfalls erkannte ich nur noch die Beine, der Rest verband sich seltsam verwachsen mit der Gartenhecke und im frischen Himmelblau hingen Dreckskörner, Staubflusen und Haare. Die so beschädigten Teile waren groß wie Kissenbezüge. Dazu kamen noch Verbeulungen in der Leinwand, denn diese hatte sich gedreht und war beim Stürzen über einen der Querträger der Staffelei geschlagen.

    Als  K.R. drei Runden vor dem sicheren Sieg durch den Bruch einer Radaufhängung ins Kiesbett geschleudert wurde und seine Karre an der Reifenwand zerschellte, als sei sie eine Seifenkiste aus Sperrholz, musst er sich ähnlich gefühlt haben wie ich vor meinem zerstörten Bild.

    Das sind dann schon Momente großer Verzweifelung. Am liebsten hätte ich den ganzen Krempel aus dem Fenster geworfen, alles raus, die Keilrahmen, die Farben, die Maltische, die Bilder, die Kunstbücher, alles was damit zu tun hatte, wollte ich vernichten, sowie K.R. als er noch leicht benommen in seinem Boliden hockte, der wollte auch alles hinter sich lassen, der hätte am liebsten sein Lenkrad dem Streckenposten an den Kopf geworfen und sehr wahrscheinlich hätte er am liebsten einen Reifen samt gebrochener Aufhängung seinen Mechanikern an den Kopf geworfen und diesen aufdringlichen Reporter mit seinen bescheuerten Fragen, dem hätte er am liebsten seinen Helm an den Kopf geworfen.

    Die Gefahr des Kontrollverlustes ist in diesen Augenblicken enorm hoch aber K.R. und ich wir sind Profis. Wir verhalten uns professionell, das heißt, wir  geben dem Wunsch nach totaler Zerstörung nicht nach, wir verhindern Kurzschlussreaktionen wie Wutanfälle und wir reagieren uns auch nicht an Unbeteiligten ab. So hat K.R. die Helfer nicht weggeschubst und er hat auch keinen Stinkefinger in Richtung Haupttribüne gezeigt und ich habe auch nicht meine Katze vom Sofa geprügelt und auch nicht die Palette in einem Anfall von geistiger Umnachtung auf dem Teppich abgewischt.

    Hat das vielleicht etwas mit Kindheit zu tun? Oder eher das?

    3-maeuse-atelierIch habe drei Stoffmäuse. Diese Stoffmäuse heißen Heinz-Herrmann, Stoffmann und Jonny von Kassel. Letzterer ist ein Vetter von Stoffmann und Heinz-Hermann und wurde von meiner Freundin L. aus einem gläsernen Hochsicherheitstrakt über Ebay freigekauft und in die Familie eingegliedert. Das, nachdem mich L. schon lange verlassen hatte. Merkwürdiger Familiensinn.

    Heinz-Hermann hat den Namen seiner Mutter angenommen und heißt Heinz-Hermann H. Bruder Stoffmann, der ältere, dem sind Namen scheißegal. Da kackt der drauf. Stoffmann ist ein Multitalent. Das heißt, er kann eine  Menge, aber leider nichts richtig. Darin ähnelt er wohl mir. Eine Zeit hat er als Kellner in einem Prominentenrestaurant in H.  gearbeitet. Wenn er davon erzählt lache ich mich krank. Handwerklich ist Stoffmann geschickt, manchmal arbeitet er am Limit, aber bisher hat er es geschafft weder einen Stromschlag zu bekommen noch mit Knochenbrüchen im Garten zu liegen, weil am Dach etwas repariert werden musste. Auch als Arzt hat er sich auch einen Namen gemacht. Er hat ein hölzernes Kniegelenk entwickelt, welches er mir implantieren möchte. Er  bastelt an einer Megabombe, hat erfolgreich die Ausbildung zum Baggerfahrer bestanden, aber auch als Lektor hat sich Stoffmann einen Namen gemacht.

    Heinz-Hermann hat es auch zu etwas gebracht. Er besitzt mittlerweile eine Privatbank, die Heinz-Hermann Privatbank gegründet 1992 mit 100% Einlagensicherungsfond. Das will schon etwas heißen. Und Jonny von Kassel, der Vetter aus dem Hochsicherheitstrakt, der  arbeitet in dieser Bank als Privatsekretär von Heinz-Hermann. Ich bin in diesem Haushalt nur der Sozialfall.

    Das Vertrauensverhältnis zwischen mir, Heinz-Hermann, Stoffmann, Jonny von Kassel und der mir oder uns zugelaufenen Grinsekatze ist bei allen Unstimmigkeiten, die es nun einmal in einer Gemeinschaft wie dieser gibt, geben muss und gegeben hat, gut. Probleme werden offen besprochen. Dazu haben wir im Flur unseres Landhauses eine große Schultafel gehängt und auf dieser wird unter anderen auch die ausgehende und eingehende Korrespondenz ausgehängt. Freiwillig natürlich. Und da lese ich vor Wochen diese Nachricht, die Stoffmann an seine Mutter geschrieben hat. Das nur zur Abrundung des Eindrucks, der durch meine Worte entstanden ist.

    Äh, ja, liebe Mutter, hier ist nix los. Schnapp (mein Spitzname) laboriert an seinen Füßen. Der wird noch Fußexperte. Jetzt behauptet er, die Füße bräuchten Wärme und er duscht sie dreimal täglich heiß ab, dann tun sie erst mal nicht mehr weh. Aber so richtig hilft das auch nicht. Dann hat er sich über eine Internet-Apotheke Magnesium bestellt. Da isst er jetzt auch täglich eine Tablette. Des weiteren hat er sich heute Morgen sauber vermalt und jetzt zweifelt er wieder an seinem Talent, dabei interessiert das auch keine Sau. Die Nachbarin, eine  Frau D., hat Schnapp erzählt, dass der Mann ihr neulich eine Weinflasche auf den Kopf hauen wollte. Schnapp hat nur gefragt, ob die Flasche leer war, weil sonst wäre es Verschwendung. Die Grinsekatze läuft hier auch ein und aus. Des weiteren isst Schnapp jetzt Fisch und Reis. Jetzt muss ich Jonny beim Radieren behilflich sein. Heute soll Schnapp ausradiert werden.

    Herzliche Grüße aus dem Landhaus.

    Stofftier (Oberlektor)

    Ist das auch Kindheit?

    Nachdem ich mich also nicht habe gehen lassen, zogen, schlichen, trotteten, wankten, stolzierten, schritten, gingen, wanderten, liefen, huschten, hopsten, hampelten mir die Gedanken angenehm unsortiert durch den Kopf. Ziehen klingt nach Wolken. Schleichen nach Indianern, trotten nach Schafen, wanken nach Kriegsgefangenen, stolzieren nach prominenten Persönlichkeiten auf dem roten Teppich, schreiten nach Politikern beim Staatsempfang, gehen nach Normalität, wandern nach eigenverantwortlichen Personen im unteren Almauftriebsgebiet, laufen nach Leuten, die eine U-Bahn nicht verpassen wollen, huschen nach Kaninchen, hopsen nach Feldhasen bei der Arbeit, zucken nach Blitzen im Gewitterhimmel, toben nach  ausgelassener Rauferei auf grünem Rasen.

    Meine freiwillige soziale Askese beschert mir bei der Formulierung bestimmter Sachverhalte höchsten Genuss. Gleiches gilt auch für Bildeinfälle, die ich hier habe. Deshalb lebe ich hier an diesem Ort und ich kann nur hoffen, dass sich die Heilkraft für Seele und Körper, die hier zu bekommen ist nicht rumspricht, denn dann wird der Bürgermeister, der Herr R., sofort einen Kurort aus diesem Flecken machen und dann kommen der Golfplatz, das Casino, die Krankenkassen und die Rehazentren um die Ecke gelaufen.

    Vielleicht sollte ich diesen blöden Brief von der Frau V. in den Papierkorb schmeißen. Und meine Kindheit dazu. Diese aus langer literarischer Vorzeit stammende Dramatik, veranlasste mich eine Bleistiftskizze zu entwerfen. Einen Papierkorb, der halbgefüllt mit zusammengeknülltem Schreibseiten gefüllt war. Einige der zusammengeknüllten Bögen lagen neben dem Papierkorb, der aus gewellten Blechstreifen zusammengeschweißt auf gerauteten Eichenparkett stand. Titel der Zeichnung: Kindheit im Papierkorb.

    Wie gesagt, hier an diesem Ort kann ich gut  nachdenken. Von mir aus auch träumen. Das die Resultate dieser Tätigkeit bislang nicht oder nur sehr unzureichend verstanden wurden, erkläre ich mir damit, dass das irdische Publikum noch nicht in der Lage ist die Botschaft meiner Arbeiten zu erkennen.  Denn wie mir glaubhaft übermittelt wurde, werden meine Ausführungen auf dem Planeten Omega durchaus verstanden. Dort habe ich mittlerweile einen Kultstatus erreicht wie hier die Boygroup T.H. Dieser Fanclub da oben im Universum umfasst einen ganzen Planeten und er  liegt ungefähr  37.000 Lichtjahre zukunftskaliert im Orbitkosmos 1278. Das habe ich auf etlichen Seiten ausgerechnet. Morgens, mittags, nachmittags, abends, spätabends und wieder morgens.

    Ich glaube manchmal, ich habe ein Herz aus Aluminium. Aluminiumherzen sind im Augenblick die Herzen, die weltweit Hightech vom Feinsten bieten. Die schlichteste Grundausstattung ist immer noch einer Orbit- Travel- Einheit überlegen.

    Na ja. Das dachte ich, während ich weiter meinen Kaffee trank. Aluherzen sind leicht, sie arbeiten lautlos, haben aber den Nachteil, sich zu verlieben. Und dann funktionieren sie nicht mehr. Das ist so wie eine nasse Batterie, die gibt auch keinen Strom mehr. Die Forschung hat das erkannt und deshalb habe ich auch ein Austauschherz, ein Aluminiumherz mit positivem Schutzmantel. Zu Fragen nach Nebenwirkungen wenden Sie sich an Ihren Arzt oder Apotheker. Zum Glück brauche ich das nicht, denn ich habe in einer Nachschulung gelernt mein Aluherz mit Superschutz plus Garantie selbst zu warten.

    Aha. Das eingegebene Passwort stimmt nicht. Geben Sie ihr Passwort neu ein. Ihr eingegebenes Passwort wird nicht als Passwort anerkannt. Das Passwort ist nicht korrekt. Das Passwort darf keine Absätze enthalten. Wenn Sie diese Datei herunterladen wollen, klicken Sie auf Okay. Okay ist kein gültiges Passwort. Passwort vergessen? Klicken Sie Passwort vergessen. @home. Basislager.de. Only for members.

    Ich habe zwei Arbeitsräume, eine Küche, einen Flur, zwei Bade- und ein Gästezimmer, ich habe einen Garten und mein Auto hat vier Räder. Dazu noch eine alte und eine junge Katze, die sich nicht vertragen. Ich habe einen Bastelkeller und viele Werkzeuge. Die braucht man hier, wenn man überleben will. Meine Hauptbeschäftigung besteht darin meine Gedankenbilder auf die Leinwand zu malen oder aber, wenn es nicht anders geht, diese Bilder sprachlich festzuhalten. Mehr möchte ich im Augenblick zum Thema Kindheit nicht vortragen. Guten Tag und auf nimmer Wiedersehen.

    © Constantin Hahm 2014

  • Unbenannter Beitrag 240

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    Der Portier öffnete einen Türflügel, trat höflich einen Schritt zurück und  verbeugte sich elegant.

    Bitte schön, Herr Birnbaum. Das Yorrick.
    Im Gegenzug trat ich einen Schritt vor und stand in einem hohen weiträumigen Raum, welcher eher an einen privaten Büchersaal als an ein Hotelzimmer erinnerte. Staunend schaute ich von links nach rechts.  Zwei mächtige Fenster in tiefen Leibungen, ausgestattet mit hölzernen Innenläden gliederten die linke Wand.  An den Fenstern gelb ausgeblichene Gardinen, aus schwerem Leinenstoff. Unter den Fenstern Heizungskörper, alte Rippen mit runzeliger Farbe. Zwischen den Fenstern ein hohes Bücherbord, tiefdunkles Eichenholz,  stämmig,  mit zwölf Querborden. Länge der Bücherwand über vier Meter. Diese bis auf den letzten Platz mit Büchern gefüllt. Davor eine Bibliotheksleiter. Der Fußboden breite schwarze Bohlen. Darauf ein alter marokkanischer Teppich, sicher vier mal vier Meter die Fläche. Auf diesem ein länglicher Kartentisch. Die Platte leer bis  auf eine schwarze Schreibtischlampe wie man sie aus alten Amtsstuben kennt. Oder kannte.  Davor ein Biedermeierstuhl mit hohem rotem Polster. Mir gegenüber das Bett. Zinnoberroter Überwurf. An Kopf- und Fußteil einfaches Messinggitter, an den Eckpfosten Kugeln. Links ein dunkler Holztisch, rechts ein alter Holztisch. Auf ihnen eine Messinglampe. Daneben in beide Richtungen ein langes Bücherbord in derselben Höhe wie das zwischen den Fenstern. Rechts und links in den Zimmerecken je ein grün gepolsterter Armstuhl. Über diesen Stühlen ein holzgerahmter Druck. Das Gesicht eines Mannes aus dem siebzehnten oder achtzehnten Jahrhundert. Einmal das linke Profil, einmal das rechte Profil. So gehängt, dass sich die beiden Gesichtshälften anschauten

    „Wer ist das, fragte ich. „Der letzte Gast?“

    „Nein. Das ist der Dichter Laurence Sterne. Der Herr hat hier übernachtet. Deshalb heißt das Zimmer auch Yorrick.“

    Ich spürte wie mir wegen meiner Frech- und Dummheit Schamesröte in ins Gesicht stieg. Erst als die Glut abkühlte drehte ich mich um und staunte nun erst richtig. Links neben der Tür hing ein großes Ölbild. Eine nackte Frau, die  bäuchlings diagonal von rechts unten nach links oben das Format füllend auf einer himmelblauen Luftmatratze sonnenbadete und dabei in einem Buch las. Auf dem hellen Körper hatte sich ein noch hellerer Badeanzug abgezeichnet. Die Luftmatratze lag auf einer Wiese. Über der Frau bildeten die Blätter eines Rhododendrons ein schützendes Dach, welches aber von Schatten und Sonnenstrahlen durchbrochen wurde. Das wieder hatte zur Folge das sich einige der Blattformen als Schatten auf dem Körper der Frau abzeichneten. Auf der Wiese  Blumen. Die Ausstrahlung des Bildes friedlich, lasziv, sinnlich, unschuldig berechnend, kindlich und erwachsen zugleich.

    „Wie….“ Ich suchte nach Worten. „Wie kommt dieses Bild hier her.“

    „Das Gemälde? Das hat Herr Heinrich Brandstifter vor … warten Sie einmal… vor drei Jahren erworben. Auf der Kunstmesse in Köln. Das Werk stammt von dem Maler…wenig bekannt…einen Moment bitte, der Maler heißt…ist von…

    Der Portier beugte sich suchend nach vorne.

    Max Birnbaum, sagte ich, und der Titel lautet: Luise.

    Stimmt, staunte der Portier, hier unten rechts steht die Signatur.

    Er drehte sich zu mir.

    Sie haben aber gute Augen. Auf die Entfernung. Bravo.

    Ich habe das Bild gemalt, sagte ich. Ich heiße Birnbaum. Max Birnbaum.

    Jetzt errötete der Portier. Er schlug sich mit der Hand an die Stirn.

    Verzeihen Sie. Wie konnte ich so unachtsam sein, Herr Birnbaum. Und Sie sind…also so etwas. Wenn das kein Zufall ist.

    Der Bar war leer. Und ich war allein. Allein unter fremden Möbeln, Bildern und  Lampen in einer leeren Bar. Der lange Tresen an dem ich saß, maß sieben bis acht Meter. Das polierte Holz glänzte vornehm dunkel, die Messingbeschläge funkelten in einer Weise, die absolut klar machten, dass sie jeden Tag auf Hochglanz poliert würden und zwar, mit Sidol, denn einige Antrocknungen dieser eierlikörfarbenen Flüssigkeit ließen sich an einer Schelle erkennen, durch welche die Fußstütze lief.

    Die Bar bog dann in einem energischen Schwung nach rechts, stieß an eine Wand, machte einen Winkel von fünfundvierzig Grad und verwandelte sich vor meinen Augen in ein Regal, welches pyramidenartig aufgestapelte Gläser, Kelche und Schalen beherbergte.

    Schön, sagte ich, und jetzt? Ich atmete tief durch, so als ob ich eine schwierige Aufgabe zu erfüllen hätte und dabei blieb mein Blick an dem schwarzen Telefon hängen. Und mir fiel Luise ein. Ganz klar, früher hätte ich sie angerufen. Aber heute, nach sechs Jahren Trennung? Ganz spontan mal durchläuten? Warum eigentlich nicht?

    Mit einem energischen Griff nahm ich den Hörer in die Hand und wählte die Null. Tatsächlich. Das Freizeichen. Danach die Nummer von Luise. Die konnte ich immer noch auswendig. Plus Vorwahl. Es läutete. Niemand hob ab. Vielleicht umgezogen. In diesem Augenblick Luises Stimme. Aber vom Band.

    Hallo Luise, begann ich seltsam erleichtert, ich wollte mich mal wieder melden. Ich bin hier in einem Hotel, mitten in der Pampa. Mein Benz hat den Geist aufgeben. Der Motor. Erst habe ich in einem Stau gestanden, hinter Göttingen. Da hat mir ein Kind immer die Zunge rausgestreckt. Stundenlang. Habe ich dieser belämmerten Göre eben auch die Zunge rausgestreckt. Und weißt du was geschieht? Die Mutter von der Göre klopft mit dem Griff eines Federballschlägers an meine Scheibe und behauptet, ich hätte ihrer Tochter obszöne Zeichen gemacht. Mit der Zunge. Ich hab gesagt, das Kind würde lügen, ich sei Kinderpsychologe. Das hat die Mutter sofort geglaubt und ich hab erzählt, dass ich die Tochter für schwer gestört hielte, aber nicht nur die Tochter sei gestört, sondern der ganze Inhalt des Autos. Das hat aber wie eine Bombe bei denen eingeschlagen. Witzigerweise arbeitet der Vater von dem Blag für das BKA und fängt…

    Ich hörte ein kurzes Knacken in der Leitung und danach ertönte monoton das Freizeichen. Das Band war zu Ende. Aber ich sagte noch ziemlich laut: Auf bald. Luise.

    Danach legte ich den Hörer zurück auf die Gabel.

    Ja, es  war schön, als ich noch an Luises Tisch sitzen durfte und Reden hielt. Über alles Mögliche. Der große Sachverständige spricht und Luise hörte sogar zu, sie machte Einwände, gab zu bedenken, stimmte zu, regte an und entwarf Lösungen. Egal, ob es darum ging, auf welchem Wege man am schnellsten in den HL, eine Supermarktkette in Hessen, käme oder ob wir beim Käse naschen die Frage besprachen, ob hier Männer und Frauen gleich behandelt werden und sie lachte auch noch über meinen Einwand warum sollten sie, der natürlich scherzhaft gemeint war und ist. Wie auch überhaupt Luise über meine Scherze richtig lachen konnte und zwar so, dass wir uns beide die Bäuche hielten und nach Luft jappten.

    Das alles bei dem Verzehr von getoasteten Wurst- und Käsebroten und dem Genuss einer kühlen Flasche Weißwein. Einmal warf ich zum Ende eines absoluten Weltverbesserungsvorschlags, nämlich die Länge eines abendlichen Stadtbummels von der Höhe des Gehaltes abhängig zu machen großkotzig meine Brieftasche (Ludwig Reiter, Wien) auf den Tisch.

    Was kostet die Nacht, fragte ich.

    Ich bin unbezahlbar, sagte sie, aber 300 Euro dürften für den Anfang genügen.

    Sie saß  mir gegenüber.

    Ich blätterte mit der Daumenspitze die Brieftasche auf.

    So viel Geld, staunte sie, ein Bild verkauft?

    Nein. Spende meiner Mutter. Bedien dich.“

    Sie wischte mit dem Zeigefinger drei blassgrüne Scheine auf das dunkelrote Tischtuch. Dabei schaute sie mich an und verzog den geschlossenen Mund zu einem spöttischen Lächeln.

    Das hatte Qualität, Esprit, das hatte Charme und Witz. So eine Frau suchte ich wieder. Bisher leider ohne Erfolg. Aber ich gebe die Hoffnung nicht auf. Deshalb drehte ich mich langsam auf meinem Hocker nach links. Ganz langsam. Also, neben mir saß definitiv niemand. Neben mir standen vier alte Barhocker. Echte Lederbullen. Stämmig, starkbeinig großmäulig. Die nahmen es mit den breitesten Ärschen auf. Und bequem waren sie auch.

    Dahinter zeigte sich ein hohes Fenster mit Parklandschaft. Rasen, Büsche, ein Kiesweg auf dem zwei Menschen gingen. War das nicht? Von der Körpergröße schon, aber nicht von der Bewegung. Luise ging immer sehr schnell. Diese Frau hier ging anders. Die ging lässig entspannt im Licht der absinkenden Sonne an der Seite eines Mannes, der einen rostbraunen Cordanzug trug, indem er leider ausschaute wie ein schleichender Fuchs auf zwei Beinen.

    Ich folgte ihnen mit den Blicken. Sie blieben stehen. Der Fuchs gestikulierte großräumig mit den Vorderpfoten, während das gelbe Kleid herzlich lachen musste. Dann gingen sie schlenderten sie weiter und ich drehte mich spähend ihnen nach, bis sie aus der Fensteröffnung verschwunden warfen und mein Blick innen auf einer halbhohen Wandverkleidung aus Eichenholz weiter lief, unter zwei dunkelgrünen Lampenschirmen hindurchtauchte, um danach vor zwei imposanten Sesseln aus dem Rokoko halt zu machen. Eng neben den Sesseln standen fast ängstlich drei kleinere Sessel, die ihren Eltern verblüffend ähnlich sahen.

    Sind Sie der Herr vom Finanzamt, hörte ich eine strenge Stimme.

    Sehe ich so aus, fragte ich zurück und drehte mich um, konnte aber kein menschliches Wesen erkennen.

    Ach, wissen Sie, meldete sich die Stimme, die aus einem der Sessel sprach, die einladend vor einem Kamin drapiert waren, ach wissen Sie, heute sehen die Leute nach gar nichts mehr aus. Der eine wie der andere, deshalb kann man heute nicht mehr so einfach vom Äußeren auf das Innere schließen.

    Das konnte man noch nie, erwiderte ich.

    Da täuschen Sie sich aber sehr, sagte der Sessel mit scharfer männlicher Stimme, einem Dieb wurde die Hand abgehackt, da wusste jeder bescheid und einem mutigen General wurden Orden verliehen.

    Umgekehrt wäre es besser gewesen, sagte ich und dachte erst jetzt verblüfft:

    Ich kann mit Möbeln sprechen. Eine Einbildung. Ohne Frage. Ursache: Übermüdung. Ich schaute trotzig auf eine Kuckucksuhr, die über einem holländischen Seestück hing.

    Na du hässlicher Kasten, fängst du auch an zu reden?

    Nichts. Die Klappe, aus der es stündlich krähte, blieb verschlossen. Mein Blick stach und stocherte in einen dunkleren Bereich der Barhalle.  Da lauert tatsächlich ein Klavier. Mattschwarz der Körper, getragen von stabilen Beinen. Der Deckel fest geschlossen.

    Dem Pianisten habe ich neulich den Deckel so auf die Finger geknallt, dass zwei Finger gebrochen wurden, tönte das Klavier leise aber gut verständlich und ohne Mitleid.

    Der Herr Pianist, der hat so falsch gespielt, dass ich Seitenstiche bekommen habe und seitdem bin ich vollkommen verstimmt. Sie sind wohl nicht der Klavierstimmer.

    Nein, sagte ich.

    Schade. Früher gab es viel mehr Leute, die ein Klavier stimmen konnten. Warum kommt die Frau Prof. Knuth nicht mehr? Weil das Hotel sparen muss.

    Wenn das Hotel die Betriebskosten nicht senken kann, geht es uns bald allen den Kragen, mischte sich der Sessel ein, dann landen wir zum Schluss in einem Möbelvernichtungslager und werden zu Sägemehl verarbeitet. Meine Familie stammt aus 16. Jahrhundert und droht demnächst im Holzschredder zu enden. Ich fass es nicht. Die Achtung vorm Alten fehlt einfach überall. Wenn Sie nicht vom Finanzamt sind, wer Sind sie dann. Geben Sie sich erkennen, Sire.

    Ich bin ein Künstler, sagte ich.

    Ein echter Künstler?

    Als Künstler bin ich so echt wie Sie als Rokokosessel.

    Welche feine Wahl der Worte, hört, hört. Bei welchem Regiment dienten Sie zu letzt?

    Das waren die Panzeraufklärer in Lüneburg und das war vor vierzig Jahren. Wetter so ähnlich wie heute.

    Wenn Sie ein Künstler sind leben Sie lieber in einer künstlichen als in einer realen Welt. Unter diesen Gesichtspunkte würde ich Ihnen gerne meine älteste Tochter als Gemahlin anvertrauen. Sie scheinen mir ein gewitzter Mensch zu sein und genau den braucht Marie-Luise. Bevor ich sie nicht vermählt habe, können auch ihre Schwestern nicht heiraten. So will es das Hausgesetz. Marie-Luise ist ein melancholisches junges Fräulein. Aber ich glaube, Sie werden sie zum Lachen bringen.

    Ja, gibt’s das denn dachte ich. Jetzt soll ich einen Sessel heiraten?

    In uns haben schon Grafen, Herzöge, Könige Behaglichkeit gefunden, sagte nun die breit gewölbte Gattin neben dem sprechenden Sessel, und in Kleve sogar ein Kaiser. Als es so schrecklich regnete. Ich hoffe inständig, wir erleben noch den Tag, wo wir unsere angestammten Plätze wieder einnehmen dürfen. Zuhause bei den Hohenzollern.

    Ihr Mann führte mir den Tatbestand noch schnörkeliger aus als nötig, denn er erklärte mit wellig gebogen Worten in höfischem Plauderton, dass die ganze Familie an Heimweh litte, aber er, seine Gattin und seine drei Töchter würden aus dieser Zeit des Exils das Beste machen. Ganz langweilig sei es immerhin nicht. Besonders Samstagabend sei hier immer eine Menge los. Gut, das Publikum, die Damen und Herren, denen wir jetzt als Ort der Entspannung dienen, das hat sich verändert. Die Herrschaften reden heute viel schneller und zum Teil auch sehr unverständlich.

    Und leider, klagte die Gattin, spüre ich auch eine deutliche Verrohung der Sitten. Wie sich manchmal jemand auf mich drauf wirft, das sei einfach nur grauenhaft. So plumsig, so bräsig, so ohne jede Eleganz, ohne Erziehung. Da habe sie aber frührer ganz andere Empfindungen gehabt. Die Herrschaften damals hatten eine Erziehung, die war tadellos.

    Die drei Töchter im zarten Alter von fast dreihundert Jahren strahlten mich bei diesen Worten in vornehmer Blässe an, besonders der Blick von Marie-Luise in dieser wunderschönen verzweifelten Ernsthaftigkeit ging mir ans Herz.

    Die Ereignisse des Tages schwammen wie blitzende Forellen in einem reißenden Gebirgsbach an mir vorbei. Sie tauchten in das schwirrende Wasser der Vergangenheit, um an andere Stelle durch die Luft der Zukunft zu fliegen. Wer kann sich dabei konzentrieren? Ich nicht. Um mich aber auf das Wesentliche zu konzentrieren, nämlich die Frage, wie es weiter gehen sollte oder könnte, griff ich zu einem altbekannten Hausmittel. Ich schloss die Augen und atmete tief ein. So tief ich nur konnte. Ich sog meine Lungen so voll, dass es bereits schmerzte. Dann verharrte ich einige Sekunden und danach blies ich die Luft wieder aus meinem Körper. Uns zwar durch den Mund. Man muss sich nur zwei Sachen merken. Durch die Nase rein, durch den Mund wieder raus.

    Dabei ist es so, dass ich mich beim scharfen Lufteinzug durch die Nase aufrichte, den Brustkorb nach vorne presse und gleichzeitig das Kreuz durchdrücke, auch mein Kopf hebt sich nach oben. Die Schultern waagerecht gerade, die Arme leicht angewinkelt. Dann das Luftablassen. Maul auf und ausatmen als sei man dicht vorm Lungenriss.

    Ich griff nach meinem Taschentuch. Irgendetwas war mir in den Hals geflogen und trieb mir die Tränen in die Augen.

    In diesen Moment öffnete sich eine schmale, von mir bisher unbemerkt gebliebene Tapetentür hinter der Bar und der Barkeeper erschien. Er trug eine weiße Uniform mit goldenen Tressen auf den breiten Schultern, dazu eine schwarze Fliege, er lachte mich an und er sah aus als gäbe es keinen besseren Kapitän auf der Brücke seiner Bar als ihn.

    Willkommen an Bord, rief dieser Profi auch noch, warten Sie schon lange? Mein Dienst beginnt erst um halb sechs.

    Nein, nein sagte ich, ich habe zu früh angemustert, mich aber in der Zwischenzeit prächtig unterhalten. Ich sah zu Marie-Luise und zwinkerte ihr schelmisch zu.

    Das glaube ich gern. Hier findet sich immer ein Gesprächspartner. Das haben gut geführte Bars so an sich. Was darf ich Ihnen anbieten. Auf Kosten des Hauses natürlich.

    Einen Gintonic, der  wäre jetzt genau richtig.

    Der Keeper griff zielstrebig nach verschieden Flaschen und schüttete zwei Flüssigkeiten in zwei großes Gläser. Eins davon schob er zu mir.

    Bitte schön. Auf Ihr Wohl. Eigentlich darf ich nichts trinken, aber ich mach es trotzdem. Einen zum Dienstbeginn und einen zum Dienstende. Und jetzt ist Dienstbeginn. 17.30. You are wellcome, Sir.

    Haben wir nicht alle einen Hang zu verbotenen Handlungen? sagte ich beschwichtigend.

    Das zu hören beruhigt mich sehr. Ich dachte schon, ich wäre allein mit meinen Sünden. Wie sehen denn Ihre aus, wenn ich fragen darf. Sie müssen aber nichts sagen, wenn Sie sich damit selbst belasten.

    Der Keeper hob lächelnd die Hände, feuerte aber ganz südländisch verwegen noch eine Frage ab.

    Schon mal gesessen?

    Ich verstand: Schon was gegessen? Und erwiderte: Nein, noch nicht.

    Darauf er: Aber ich. Acht Jahre.

    Darauf ich: Acht Jahre? Das Gericht kenn ich nicht. Ich kenne nur acht Kostbarkeiten vom Chinesen.

    Sie haben mich falsch verstanden. Ich war im Knast. Acht Jahre. Und ich habe Sie gefragt, ob Sie schon mal gesessen haben.

    Ach so, sagte ich, nein. Nicht das ich es wüsste.

    Sie wüssten es. Glauben Sie mir. Den Aufenthalt vergisst keiner. Im Knast herrschen dieselben Strukturen wie draußen. Es gibt Hierarchien. Ein Kinderschänder genießt keinerlei Achtung. Der wird so fertig gemacht, dass er darum bettelt in Einzelhaft genommen zu werden. Bank und Juwelenräuber, die Millionenbeute ohne Tote gemacht haben wohnen ganz oben mit vielen Vergünstigungen. Clevere Kerle, die alles auf die Sekunde planen und durchführen und dabei keiner Seele etwas antun.

    Und was war es bei Ihnen?

    Nichts Tolles. Untere Laufbahn. Beschaffungskriminalität. Ich war drogenabhängig. Ein Raubüberfall aus Habgier. Davor Ladendiebstähle. Aber ich bin schon seit Jahren resozialisiert. Vollständig. Sie können mir getrost Ihre Brieftasche anvertrauen. Und wissen sie wem ich mein neues Leben zu verdanken habe?

    Keine Ahnung.

    Einer Frau. Der Tochter des leider im letzten Jahr verstorbenen Besitzers dieses Hotels, die hat mich trotz meiner Vorstrafen als Barkeeper eingestellt, vor acht Jahren. Und die riet mir, ich solle mir für meine Freizeit, um nicht auf dumme Gedanken zu kommen eine sinnvolle Beschäftigung suchen.

    Und haben Sie eine gefunden?

    Allerdings. Die Malerei. Ich bin natürlich ein Laie, ein Hobbymaler, ein Autodidakt. Ich habe mir alles selbst beigebracht. Erst habe ich angefangen die großen Meister abzumalen. Aber wissen Sie was viel besser geht?

    Na?

    Das Abmalen von unbekannten Meistern. Und wo finden Sie die?

    Na?

    Auf Flohmärkten und in irgendwelchen Krabbelkisten. Hier. Schauen Sie mal.

    Der Keeper griff unter den Tresen.

    Diesen Katalog habe ich vor einem Jahr gefunden. Ich find den super. Schon mal gehört den Namen? Max Birnbaum. Toutes direction. Schon mal gehört?

    Nein, sagte ich. Und zuckte sogar noch mit den Schultern. Noch nie.

    Und ich setzte noch nach.

    Muss man den kennen?

    Das ganz treuherzig gesprochen.

    Ach was, winkte der Keeper ab, den kennt kein Mensch, obwohl, schauen Sie sich mal das an. Hier, was ist das?

    Sieht aus wie ein Hund.

    Ist aber ein Pferd.

    Und das hier. Was sagen Sie dazu. Ein Eichhörnchen am Klavier. Ja, wo sind wir denn. Wo steht denn die Moderne? Als Eichhörnchen am Klavier?

    Er schlug eine weitere Seite auf. Was sagen dazu? Ein Kreuzworträtsel. Das finde ich schon ziemlich genial. Aber das hier auf dieser Seite, das ist der Hammer. Wie finden Sie das.

    Gewagt, sagte ich.

    Das ist Luise, sagte der erste Offizier der Mixgetränke

    Woher wissen Sie das?

    Meine Stimme wurde rau.

    So heißt das Bild. Da steht es doch.

    Stimmt, sagte ich.

    Dieses Bild habe ich kopiert.

    Was Sie nicht sagen.

    In welchem Zimmer logieren Sie?

    Im Yorrick.

    Da hängt es.

    Nein.

    Doch.

    Das da oben soll eine Fälschung sein?

    So ist es.

    Aber…

    Sie haben gedacht, das ist ein echter Birnbaum? Falsch gedacht.

    In diesem Moment der Wahrheit meldete sich der Kuckuck aus der Wanduhr. Es war achtzehn Uhr. Die Tür sprang auf, der Kuckuck rutschte zerzaust auf einer Metallschiene nach vorne und kukukte mit großer Wichtigkeit sechs mal. Dann machte er das Maul wieder zu, die Schiene zog sich in den Kasten zurück und die Tür würde vernehmlich zugeschlagen.

    © Constantin Hahm 2006

  • Unbenannter Beitrag 196

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    Letzten Sonntag unternahm ich mit meinem liebevoll restaurierten VW-Cabrio, Baujahr 1967 bei herrlichem Wetter einen Ausflug aufs Land. Ich sah was auf solchen Fahrten zu sehen ist. Breite Bauernhöfe, haushohe Heuschober, faltige Felder, klobige Kühe, tiefblaue Teiche, lärmende Leute, verlaufene Liebespaare, gelangweilte Gänse, spindeldürre Spargel und am Straßenrand feiste Figuren, die drohend mit dem Daumen winkten.

    Ich liebe das Land. Dieser Geruch nach Erde, Kuhscheiße und frischem Spargel wirkt bei mir wie bei anderen der Wein, also rauschhaft.  Und wenn ich einmal reich sein sollte, dann kaufe ich mir sicher ein Haus mit einem Acker, denn nichts ist bekömmlicher für Leib und Seele als das Bestellen der eigenen Scholle, nichts führt zu mehr Glücksgefühlen als der Verzehr selbst angebauter Produkte. Ungespritzt und ungeklont.

    Allerdings habe ich auch Gegenteiliges vernommen, von Leuten gehört, die voller Elan Schafe züchten wollten und dabei gegen Krankheiten und unheilbaren Seuchen zu kämpfen hatten. Die sie natürlich nicht besiegen konnten und so war der Traum vom ehrlichen Leben auf dem Land auch bald ausgeträumt und sie mussten das Feld auf dem die gesamte Herde, 234 Exemplare, begraben lag im wahrsten Sinne des Wortes räumen.

    Der Weg durchs Leben ist ein Labyrinth, ein undurchschaubares Gespinst, eine Landkarte auf der nichts stimmt. Weder der Maßstab noch die Himmelsrichtungen, weder die Ortsbezeichnungen noch die Namen der Flüsse.

    Was dicht bei liegt, wie der Seemann sagt, ist in Wirklichkeit Kilometer weit entfernt. Und das Gute kommt in Gestalt des Bösen oder umgekehrt. Und was heute als wahre Begebenheit verkündet wurde, entpuppt sich am nächsten Tag als Lüge. Keiner weiß mehr was stimmt und wo es langgeht und viele verlieren in diesen Situationen den Kopf. Sie geraten in Panik, schenken den Falschen vertrauen, verarmen und sitzen zum Schluss jammernd vor der Tür staatlicher Institutionen.

    Andere verlieren jedes Maß und scheffeln mit dümmsten Banalitäten gewaltige Vermögen zusammen, bis sie eine Summe erreicht haben, mit der sie die ganze Welt vom Hunger befreien könnten, der nun auch mich plagt. Hier, in dieser Gegend wurde vorgesorgt.  Es gibt auffallend viele Gasthäuser. Ich parke vor dem Landgasthaus Schlohmeier.

    Die Gastube ist ländlich nach Gutsherrenart dekoriert. An den Wänden prächtige Geweihe, die Tische mit weißen Tüchern belegt und vornehmest eingedeckt. Unterteller, Oberteller, silbernes Bestecke, Blumengebinde, hölzerne Wappen, dicke Balken. Nur ein Tisch hinten am Fenster ist besetzt. An diesem sitzen zwei Herren. Der eine mit dem Gesicht zu mir. Im Anzug, Brille, das Gesicht von feinen Lebensspuren edel gezeichnet. Der mit dem Rücken zu mir ist feister, sitzt offenbar vorgebeugt, denn der kräftige nackte Schädel glänzt matt von hinten beleuchtet in der Mittagssonne.

    Ich setzte mich an den anderen Ecktisch in dieser Reihe. Zwischen mir und dem anderen Tisch stehen noch mal sechs Tische, diese wie schon gemeldet unbesetzt. Der Ober kommt, ich bestelle ein Wiener Schnitzel mit Bratkartoffeln und frischem Feldsalat, dazu kaltes Mineralwasser. Der Ober geht und ich entspanne mich, denn, wie jeder, der ein Cabrio fährt, weiß, hat man nach einer Freiluftfahrt leichtes Ohrensausen, welches sich dann aber in geschlossenen Räumen schnell legt. Und so  hörte ich plötzlich die Stimme von diesem Glatzkopf, erst leise dann laut und verständlich, über eine Distanz von geschätzten fünfzig Metern.

    …sechs Millionen Etat von der Shell,  das musste nur noch einmal präsentiert werden und was macht Marc? Der geht lieber segeln. Und ich im Urlaub. Alles vorher besprochen, sechs Millionen Etat, da war ich schon bei Porsche und hab den Cayenne bestellt. Schwarze Lackierung Hammerschlag, hinten auf dem Arsch Castrol und vorne auf der Haube so eine Tusse mit Wischtuch, einen sechs Millionen Etat setzt der in den Sand. Die von der Shell sitzen im Konferenzsaal und warten und warten, aber nichts  geschieht, weil Marc lieber segeln geht. Kein Verantwortlicher auf der Brücke. Da sind die von der Schell nach einer Stunde wieder abgezogen und wir hatten am Montag ein Fax von denen auf dem Schreibtisch liegen. Wir waren aus dem Rennen. Also, ich will den Marc jetzt als erstes aus meinem Haus schmeißen. Ich kann diese Fresse nicht mehr sehen.

    Da brauchst du einen Kündigungsgrund, sagt der im Anzug.

    Einen? Ich hab tausende. Zum Beispiel,  Marc hat oben auf seiner Etage eine komplett eingerichtete Küche, aber da sitzt er nicht, nein, der sitzt bei mir unten in meiner Küche, am liebsten mit Frauen. Die werden bekocht, die trinken meinen Wein und hören laut Musik, aber bei mir beschwert sich Marc, dass mein Telefon zu laut klingeln würde. Da würde er immer aufwachen.

    Das ist aber…

    …unverschämt. Genau das ist es. Unverschämt.  Fühlt sich vom Klingeln meines Handys gestört, kommt aber seit Jahren flötend die Treppe hinunter.  Wenn das wenigstens eine Melodie wäre, nein, es ist nur ein Ton, welchen er in ziemlich kurzen Abständen ausstößt. Meistens liegen fünf Sekunden zwischen den Tönen. Ich hab auf die Uhr geguckt. Ungefähr vor einem Jahr habe ich ihm das Pfeifen in meinem Wohnbereich untersagt.

    Und hat er sich…

    …daran gehalten? Das schon, aber seitdem lässt er die Zimmertür auf, wenn er mit Karin vögelt. Und die lacht immer ganz laut.

    Das könnte…

    …Absicht sein? Das ist Absicht. Aber ich kann zurückschlagen. Wenn das Fahrradhaus fertig ist, habe ich zu Marc gesagt, dann stellst du dein Fahrrad da rein, dann kommt das hier aus dem Flur raus. Da sagt der frech, er würde sein Rad nie in das Fahrradhaus stellen, das wäre ein Rennrad im Wert von 8000€. Dann stell es oben in deine Wohnung, habe ich gebrüllt und er hat gebrüllt, er würde gar nicht daran denken, dass Rad immer drei Treppen hoch zu tragen, er habe hier auch als Mieter Rechte. Ich habe ihm gesagt, er könne gleich mit meiner Rechten Bekanntschaft schließen. Der weiß genau, dass ich zuschlagen kann und Marc ist nicht gerade schwächlich. Das war an meinem Geburtstag. Selbst an dem Tag sitzt der unten der Küche, ich hatte ihn gar nicht eingeladen. Ich hatte nur Betty, unsere damalige Praktikantin, eine affenscharfe Dänin, eingeladen, die trug ein rotes enges Lederkleid und brachte eine Torte mit, extra für mich gebacken, du kennst ja das Foto. Mit Betty wollte ich den Abend verbringen, aber nicht mit Marc. Aber der Stumpfbock blieb einfach in der Küche hocken und glubschte Betty an. Und dann ist Betty aufgestanden und gesagt, sie ginge jetzt ins Bett. In mein Bett Das blöde Gesicht Marc vergesse ich nie. Und ein Foto von Betty, das habe ich immer in der Brieftasche. Also, wie bekomme ich jetzt diesen freilaufenden Gewindeschneider von der Backe?

    Das sage ich Ihnen, wenn Sie mir das Foto zeigen, rufe ich zu meinem eigenen Erstaunen.

    Was, fragt die Glatze und dreht sich um.

    Wie, fragt der andere und macht einen langen Hals.

    Ich habe alles mit angehört. Unfreiwillig, sage ich.

    Was haben Sie denn für ein Gehör, staunt die Glatze und zieht aus der Jacke seine Brieftasche. Hier, das ist Betty.

    Er hält das Foto hoch.

    Kommen Sie her und schauen Sie sich die Frau an.

    Ich erhebe mich, gehe ein paar Schritte, stehe am Tisch der Glatze und die drückt mir ein Foto in die Hand. Betty im ärmellosen Lederkleid, leicht nach vorne geneigt. Ich sehe einen hübschen Ausschnitt, einen schmalen Hals und einen lachenden Mund. Mehr nicht. Im Hintergrund noch unscharf einen Geschirrschrank mit blauen Tellern.

    Hübsch, sage ich.

    Die Glatze lacht wummernd.

    Hübsch. So kann man es auch bezeichnen.

    Dann reißt er mir das Foto wieder aus der Hand.

    Genug geglotzt. Ich höre.

    Sie können nach meinem Wissensstand diesem Marc ohne weiteres kündigen.

    Sind Sie Anwalt?

    Allerdings, sage ich, und mein Spezialgebiet ist das Mietrecht.

    Mensch, sagt die Glatze, kann ich Sie briefen?

    Dafür brauchen Sie keinen Anwalt, sage ich, der Fall ist eindeutig. Formlose Kündigung zum erstbesten Termin. Einfach in den Briefkasten oder unter der Tür durchschieben.

    Was heißt erstbester Termin?

    Der ergibt sich aus dem Mietvertrag.

    Aber es gibt keinen Mietvertrag.

    Wieso nicht?

    Unter Freunden ist das doch nicht üblich.

    Gerade unter denen sollten Verträge abgeschlossen werden. Denn ohne Verträge wird es komplizierter. Mündliche Absprachen sind anders zu bewerten als schriftliche. Aber ich empfehle Ihnen es mit der schriftlichen Privatkündigung zu versuchen. Wenn das nicht klappen sollte, rufen Sie diese Nummer an. Dann bekommt Ihr Marc eins auf die Nuss.

    Ich kritzelte eine  ausgedachte Telefonnummer auf ein Stück Papier und schob es der Glatze zu.

    Die helfen Ihnen garantiert.

    Danke, sagt die Glatze, dafür bezahle Ihr Essen. Keine Widerrede. Danke.

    Er gab mir die Hand und ich gab ihm die meine.

    Das liebe ich an der Bevölkerung dieses Landstriches,  dieses unverstellte Brauchtum, dieses Gespür für Zufallsbegegnungen, dieses Jeder spricht mit Jedem, dieses Ehrliche, ein Handschlag ist mehr wert als zehn Verträge und zum Essen wird man auch noch eingeladen. Ich würde es ja genau so machen.  Gut gelaunt saß ich in meinem Wagen und schnurrte heimwärts in die Großstadt.

    Auf dem Weg  zurück blieb ich jedoch auf der A1 in einem gigantischen Stau stecken. Es drehte sich kein Rad mehr und die Autos, an sich zur Bewegung gedacht, reihten sich in doppelter Spur erstarrt und leblos so weit das Auge reichte.  Talwärts gekurvt zwischen gelben Feldern hindurch und wieder hinauf ansteigend, grüne Waldflächen durchschneidend. Es gab kein vor und kein zurück. Die Gegenfahrbahn aber provozierend frei. Was hier zu viel war, war dort zu wenig. Die einen haben alles, die anderen fast nichts, dort die Freiheit, hier die Gefangenschaft. Der eine verdient zehn Millionen im Jahr, ein andere kommt bei größter Anstrengung nicht über sechstausend im selben Zeitraum. Natürlich gibt es für alles eine Ursache, aber auch die erkannten Ursachen sind nicht frei von Fehlstellungen, überlegte ich schläfrig und verbittert vor meinem Lenkrad sitzend.

    Vor mir stand ein Volvo mit dänischem Nummernschild. Plötzlich wurde die Fahrertür geöffnet. Zuerst sah ich zwei Tennisschuhe, dann gebräunte Beine, dann rote Shorts, dann eine weiße Bluse mit schrägen Ärmeln und endlich einen Kopf mit kurzen blonden Haaren und einer Sonnenbrille. Die Frau ging zum Kofferraum. Sie klappte die Haube hoch und beugte sich tief in das Innere.

    Manche Frauen machen mich nervös. Manche Frauen verwirren mich. Manche Frauen verursachen bei mir körperliche und seelische Veränderungen. Im positiven Sinne.  Ganz plötzlich befällt mich Sprechlust. Normalerweise bin ich maulfaul. Zündende Geistesblitze, witzige Worte, charmante Anspielungen zischen wie Feuerwerksraketen um die Ohren der anderen. Sonst gelte ich auf diesem Gebiet als Trantüte, als Langweiler, als stumpf, humorlos und hölzern, aber die Gegenwart, die Anwesenheit, das Dasein, die pure Existenz mancher Frauen bewirkt eine erstaunliche Verwandlung, Metamorphose bei mir. Ich lächle liebevoll ohne blöde zu grinsen. Meine Aussprache ist sauber, rein und fein tönend. Ich spucke nicht und vermeide gekonnt alle Zweideutigkeiten. Ansonsten ist auch das eher nicht der Fall. Üble Schimpfworte, drastische Vergleiche und gemeine Hinterhältigkeiten bemächtigen sich meiner anfallartig, besonders an Tankstellen, in Supermärkten oder überhaupt im öffentlichen Sozialraum.

    Nun, dieser Fabulierdrang lässt ja schon ahnen wohin die Reise geht.

    Jedenfalls stieg ich auch aus, schlenderte mit betont besorgter Miene zum Vorderteil meines Autos, drückte mit der Spitze meines rechten Schuhs gegen den Gummimantel des Reifens und sagte laut und vernehmlich:

    Das ist ja grauenhaft.

    Mit den Worten ‚Sie meinen doch wohl nicht mich‘ tauchte der Oberkörper der Frau aus dem Kofferraum und wandte sich zu mir. Sie nahm die Sonnenbrille ab. Kühle blaue Augen sahen mich an. Auf ihrer Nase saß ein frecher Schwarm Sommersprossen.

    Das wäre wohl…, beteuerte ich. Nein, nein, dieser Stau. Das könnte das Ende sein. Das endgültige Aus für die Industriegesellschaft. Hier bewegt sich für Jahre nichts mehr.

    Um mich zu widerlegen, knatterte ein Hubschrauber über unsere Köpfe. Er kurvte in Schräglage über das lackierte Blechband der Autodächer und verschwand im blauen Dunst.

    Hier, nehmen Sie mal eine Erfrischung aus meinem Eisbag, sagte die Frau. Das bringt Sie auf neue Gedanken.

    Danke, sagte ich, Sie haben mir das Leben gerettet. Ich war schon am verdursten.

    Sie übertreiben

    Im Gegenteil. Das Verdeck meines Autos klemmt. Seit Stunden brennt mir die Sonne auf den Hinterkopf.

    Ich nahm einen tiefen Schluck aus der kalten silbernen Dose.

    Jetzt geht es mir schon besser, viel besser.

    Die Frau reichte mir bis zur Schulter und hatte gebräunte Arme.

    Was machen Sie hier, fragte ich hochintelligent.

    Ich warte. Wie Sie.

    Und wo kommen Sie her?

    Aus Dänemark.

    Nein, ich meine, heute, denn Sie fahren ja in Richtung Norden, dass heißt, Sie müssen aus dem Süden gekommen sein. Dänemark liegt im Norden, wenn ich mich nicht täusche.

    Aus Göttingen. Ich studiere an der Universität Literaturwissenschaft.

    Oh, sagte ich beeindruckt. Und was genau?

    Die Literatur des Barocks. An was denken Sie, wenn Sie das Wort Barock hören.

    An…Kurven. Geschwungene Beine…bei Möbeln.

    Das Wort kommt aus dem Portugiesischen und bedeutet geschwungene Perle.

    In den Augen der Dänin brannte ein Licht, dass mich magisch anzog.

    Wir gingen auf der Standspur spazieren, fast wie ein verliebtes Paar. Hinter einem gelben Weizenfeld ragte das rote Dach einer Scheune hervor. Zur linken Seite wellten sich grüne Weiden, die mit schwarzweißen Kühen bestückt waren und hinten am Hang krabbelte ein blauer Trecker über einen braunen Acker. Ein Käfer aus Eisen und Stahl.

    Ich betrachtete die geschwungene schiefe Perle aus den Augenwinkeln. Mal erschien sie mir konvex, mal konkav, mal hell, mal dunkel, mal länglich gestreckt, mal rundlich gestaucht. Die Form war so wechselhaft und fließend in der Bewegung wie die Kornfelder die der warme Wind wellenartig bewegte.

    Das Barock, sagte die blonde Perle, war eine Epoche ausgeprägter Gegensätzlichkeit. Wie hier. Auf der einen Seite diese Autos aus Blech, Chrom und Glas, die unterschiedlich in Form, Farbe und Größe aufgereiht wie Perlen an der Schnur hängen,  bewegungsunfähig und damit das genaue Gegenteil ihrer eigentlichen Bestimmung geworden sind. Eine Sache die zur Bewegung entwickelt wurde kann sich nicht mehr bewegen, weil sich zu viele bewegen wollen. Es ist das Zerren und Reißen an den Ketten der Zeit. Sehen Sie sich doch nur diese Gesichter an. Verzweifelt, niedergeschlagen, wütend, frustriert, gedemütigt, der Lächerlichkeit preisgegeben, denn was nützt nun dieser BMW oder Mercedes mit 380 PS und Navigationsgerät, wenn man sich nicht mehr damit bewegen kann? In diesen Augenblicken erinnern sich viele an die Vergänglichkeit und die Gewissheit sterben zu müssen verdunkelt das Gemüt noch mehr. Alles ist und fühlt sich kalt und leblos an. Und das bei diesen Temperaturen. Das ist barock. Eben schief, krumm, gebogen, gewellt, gestaucht, gestreckt und in sich verdreht wie diese Autobahn, diese A1. Und was machen wir?

    Wir, fragte ich vom Wortrausch der Dänin gedanklich zerzauselt wie die Federwolken, die in der Ferne über dem Horizont standen, fast so, als läge hinter dem Horizont jemand im Gras und bliese weiße Wölkchen in den Himmel.

    Wir rufen Carpe Diem, genieße den Tag, das Licht, die Wärme, die Sonne, das Leben, jede Sekunde, Minute und Stunde.

    Mit Ihnen immer, sagte ich, da kann dieser Stau so lange dauern wie er will.

    Wo wollen Sie heute noch hin, fragte ich.

    Am liebsten nach Hause, nach Kopenhagen.

    Das schaffen Sie nie. Schauen Sie sich das hier an. Wir können froh sein, wenn wir hier lebend rauskommen. Kopenhagen, das wird nichts mehr. Vielleicht Hamburg. Aber auch das ist fraglich. Aber wenn Hamburg, dann sollten Sie bei mir übernachten und morgen frisch ausgeschlafen in die schöne Heimat fahren. Und falls es sich ergeben sollte, lade ich Sie zum Essen ein.

    Sind alle deutschen Männer so nett wie Sie?

    Sind alle dänischen Frauen so intelligent wie Sie?

    Natürlich nicht, ich bin eine Ausnahme.

    Ich auch.

    Nach zwei Stunden ließ die Disziplin zu wünschen übrig. Auf der Standspur spielten Jugendliche Federball. Thermosflaschen machten die Runde. Aus den Radios quäkten Nachrichten, Sportberichte und Verkehrsmeldungen. Familienväter prüften mit fachmännischen Gesichtszügen die Befestigungen ihrer auf die Dächer geschnallten Surfbretter und Fahrräder. Bei den meisten dieser Transportkünstler befand sich das Damenrad über der mitfahrenden Dame und das Herrenrad über dem mitfahrenden Herren. Während der Untersuchung zogen sich die Herren die durchs lange sitzen schlapp gewordenen Hosen mit anmutigen Drehbewegungen wieder fester in den Schritt, während die Damen erfrischendes Parfüm in die Blusen kippten.

    Ein Merkmal des gemeinen Volkszorns besteht darin, sich ein Ventil zu suchen, damit der aufgestaute Ärger verdampfen kann. Hinter uns schmorte ein Fischlastwagen, dessen Kühlaggregat alle fünf  Minuten brummend ansprang, was zur Folge hatte, dass die im Sonnenschein wankenden Autofahrer zurück zur ihren Fahrzeugen stürzten, in der Meinung, es würde endlich weitergehen. Nervlich durch diesen permanenten Falschalarm zermürbt, wurde der Fischlaster schließlich umringt und der Fahrer drohend aufgefordert seinen Diesel abzustellen.

    Abstellen, brüllte der Fischfahrer von oben aus dem Fenster, bei der Hitze vergammelt mir ja die Ladung.

    Haben Sie überhaupt eine Sonntagsfahrgenehmigung, schrie ein ganz Aufgebrachter und sprang wie ein bissbereiter Hund an der Außentür des Lasters hoch.

    Wer bist Du denn, schrie der Fischfahrer.

    Ich bin Polizist, kläffte es zurück.

    Ja, aber Du bist pensioniert, Fredi, beruhigte eine Frau und zerrte ihren Gatten am Hemd zurück.

    Pensioniert, höhnte der Fischfahrer.

    Sie stellen jetzt den Motor ab oder es setzt etwas.

    Leck mich am Arsch, du pensionierter Affe.

    Wütend trat der Mann dem Laster gegen den Türschweller.

    Noch einmal und es kracht, schrie der Fischfahrer und hielt einen wuchtigen Schraubenschlüssel in der Hand.

    In dieser brenzligen Situation schaukelte rettend ein Kleinlastwagen aus dem Dorf heran. Mettmeiers Wurstwaren. Hinter ihm ein zweiter Wagen: Napoli-Eis.  Und ein dritter:  Pizza zum Mitnehmen. Das Dorf war erwacht und witterte ein Jahrhundertgeschäft. Von einer Staubwolke, etlichen Kindern, Hunden und Hühnern begleitet, kurvte die Karawane auf dem verockerten Feldweg heran. Aller Streit war vergessen, Jubel brach aus und jeder stieg über die Leitplanke, sprang über Wassergräben, kletterte über de Kuhzäune und stürzte den Händlern entgegen, die ihre Wagen am Rande des Weizenfeldes parkten, die Türen und Blechwände aufklappten und ihre Angebotstafeln raus hingen. Ich kaufte für die Dänin und mich sechs Thüringer Bratwürstel, von denen vier ihr Ziel erreichten, zwei fielen beim Rücktransport in einen Graben und blieben unauffindbar.

    Inzwischen war die Sonne unter und der Mond aufgegangen. Über der Dänin und mir spannte sich ein geheimnisvoller Nachthimmel.

    Schön, sagte ich.

    Sehr schön, sagte die Dänin.

    Wie heißen Sie eigentlich?

    Betty

    Betty?

    Was ist daran so ungewöhnlich?

    Nichts, nur habe ich diesen Namen heute schon einmal gehört. Darf ich Sie etwas fragen?

    Bitte.

    Haben Sie ein Lederkleid.

    Warum?

    Mir wurde heute ein Foto gezeigt von einer Frau in einem Lederkleid. Der Kopf war nicht auf dem Foto, nur der Oberkörper. Und die Frau hieß Betty und war auch Dänin.

    Wer hat Ihnen das Foto gezeigt?

    Ich weiß nicht, wie der Mann hieß. Ich habe nur gehört, dass er eine Werbeagentur leitet und mit einem gewissen Marc zusammengearbeitet hat, über den hat er sich aber mächtig aufgeregt hat.

    Wie ultrawitzig, staunte die Dänin. Ich habe im letzten Jahr ein Praktikum in einer Werbeagentur gemacht, Media-Trust. Die wurde tatsächlich von einem Marc Meller und einem Thomas Storz geführt.

    Der Fischfahrer und der pensionierte Polizist hatten Freundschaft geschlossen und brieten an einem Lagerfeuer friedlich Forellen. Neben mir diskutierten zwei Herren, die ich nach ihrem nüchternen Erscheinungsbild dem Bankgewerbe zugeordnet hätte die verwegenen Möglichkeit ein Stück aus der Leitplanke herauszusägen, Bohlen über den Graben zu legen und so den Weg in die Freiheit zu gewinnen.

    Ein kühler Wind strich über jetzt schwarze Felder. Aus der Ferne brummte ein Hubschrauber heran, seine Suchscheinwerfer tasteten sich durch die Finsternis. Dann standen wir im Lichtkegel.

    Hier spricht die Polizei.  Begeben Sie sich zu ihren Fahrzeugen. Gleich haben Sie freie Fahrt.

    Lasst uns zufrieden, schrie der Fischfahrer, erst habt ihr euch nicht um uns gekümmert, jetzt kümmern wir uns nicht um euch.

    Er nahm eine Forelle und warf sie in Richtung Hubschrauber.

    Es war ein erhabener Anblick, als wir von unserer Hügelkuppe beobachteten, wie in weiter Ferne ein Auto nach dem anderen das Licht einschaltete und sich in Bewegung setzte. Dann kam die Reihe an uns. Ich verabredete mit der Dänin Betty, sie solle brav hinter mir herfahren. Aber kaum saßen die Menschen wieder in ihren Autos, wollte jeder so schnell wie möglich nach Hause und in dem ganzen Bremsen, Lichthupen und Gedrängel verlor ich die Dänin aus den Augen und in der Dunkelheit anzuhalten war auch unmöglich. Niedergeschlagen und mit dem Gefühl, die große Liebe getroffen aber nicht festgehalten zu haben, fuhr ich nach Hause. Erst jetzt fiel mir auf, dass ich die ganze Zeit auf etwas gesessen hatte. Es war die vom Fischfahrer in die Luft geworfene Forelle, die an meiner Hose klebte

    © Constantin Hahm 2016

  • Unbenannter Beitrag 192

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    Seit gestern ist mein Mann in New York. Der Herr befindet sich auf einer Lesereise. Der Gute schreibt erotische Romane. Mit großem internationalen Erfolg. Seine Bücher sind bereits in acht Sprachen übersetzt. Es ist unglaublich, dass sich dieser Schwachsinn so gut verkauft. Aber die Leute lieben es. Sie wollen es lesen. Dabei ist alles ausgedacht. Ich kenne doch meinen Mann. Der wäre gar nicht in der Lage zu diesen Turnübungen. Die Bandscheiben. Erstaunlich ist, dass seine Lesungen fast ausschließlich von Frauen besucht werden. Da scheint er irgendetwas getroffen zu haben. Selbst emanzipatorisch denkende Frauen zollen ihm Beifall. Ich kann darüber nur lachen. Aber als wirtschaftlich denkende Verlegerin ist mir das nur Recht.

    Mein Mann versteht seine Werke als Aufklärung. Ich weiß noch genau wie er mir das sagte. Als würde er mir ein Geständnis machen. Das war nach dem Erfolg seines dritten Romans. In Paris. Wir fuhren auf der Périphérique. Mein Mann sagte, Paris erinnere ihn an dieser Stelle an einen Baumkuchen. Wenn ich an einen Baumkuchen denke, schmecke ich Schokolade und Teig, sagte ich. Er sagte, es ginge nicht um den Geschmack sondern um die Architektur, das alles hier zwischen der Porte de Montreuil und der Porte de Vincennes in Scheiben wie auf einem Spieß stecken würde, die Straßen, die Plätze, die Appartementhäuser. In Paris kann man nur nach oben leben, alles andere ist Bullshit. Das stieß er verächtlich hervor, wie jemand, der erlebt hat, dass ihm die Leute zunächst nicht glauben werden, aber dann, eines Tages bekommt er die verdiente Anerkennung, aber für ihn kommt sie zu spät. Oder so ähnlich. Auf alle Fälle ungerecht. Wie Männer eben so sind. Übertreiben immer. Und können sich nicht präzise ausdrücken. Was ja mein Mann mit seinem Baumkuchenvergleich bewies. Erst Baum, dann Spieß, sagte ich, so geht das aber nicht, sprachlich gesehen. Er wusste sofort was ich meinte, sagte aber ohne Skrupel, dass er nur einen zweiten Vergleich herangezogen habe, weil er meinte, ich habe den ersten nicht verstanden.

    Wie Schlingpflanzen wanden sich die Straßen um die Häuser, liefen zwischen ihnen hindurch und wuchsen über sie hinaus. Eisen, Stahl, Aluminium, Inox, Zink, Rohre, Stangen und dazwischen schwarze Vierecke, rote Rechtecke, gelbe Kreise, grüne Linien, weiße Blitze, lange Lichter, orangefarbene Tunnel, Ausfahrten, Einfahrten. Vorpreschen, Stehenbleiben, Vorsprechen, Stehenbleiben. Links das im Licht der Schweinwerfer flackernde Heck eines holländischen Reisebusses, rechts der betonierte regungslose Arm einer Brücke, der so tief hing, dass ich unwillkürlich den Kopf einzog. Zwischen den Autos Motorräder, auf denen gekrümmte mattschwarze Figuren hockten, die mit einer Geschwindigkeit rasten als wären sie von der Polizei verfolgte Selbstmordattentäter oder sonst wie auf der Flucht vor dem Tod,  Das war die eine Seite der Geschichte.

    Die andere war die Behauptung meines Mannes, ich habe etwas was er gesagt hätte nicht verstanden. Nicht aus gesundheitlichen Gründen, sondern weil er wohl an meinen geistigen Fähigkeiten zweifelte ihn zu verstehen. Zur Entschuldigung für meinen Mann muss ich sagen, dass er einundzwanzig Jahre älter ist als sich. Da sehe ich ihm schon einiges nach. Aber eben nicht alles. Und das hier ging mir zu weit. Deshalb sagte ich, er solle sich vor Peinlichkeiten hüten. Ich wusste, dass ihn das Wort Peinlichkeiten in tiefste Verwirrung stürzen würde und prompt erhielt ich die Bestätigung, denn er drehte ruckartig den Kopf zu mir und quäkte wie ein empörter Ganter: Wie meinst du das?

    Fast wäre ich mit unserem Porsche einem Klempner hinten ins Auto gefahren, so musste ich lachen. Innerlich. Über diesen Mann. Ein Ganter, der erotische Bücher schreibt. Wie Ganter es sich vorstellt. Ich musste so laut loslachen, dass mir die Tränen aus den Äugen schossen und da wäre ich fast in diesen Klempner reingefahren, in diesen weißgetünchten Kastenwagen mit der Aufschrift Plombier. Und darunter Depannage 24/24. Ging gerade noch einmal gut, aber mein Mann schrie: Was machst du denn, und dann, was lachst du denn?

    Wieder so eine Situation. Zwei Fragen. Auch typisch Mann. Als ob eine nicht reichen würde. Eine andere Auffälligkeit ist die, bei meinem Mann jedenfalls, er beginnt fast immer den Satz mit dem Kommando: Paß auf. Also etwa so: Paß auf. Ich geh jetzt oder paß auf, ich bin müde oder paß auf, ich geh gleich ins Bett. Paß auf, ich habe Hunger. Als ich ihn deswegen einmal zur Rede stellte, staunte er mich verdutzt an. Er würde es selber gar nicht hören und auch nicht so meinen. Paß auf, ich muss jetzt noch ein wenig tippen. Damit ging er aus dem Salon und verschwand in seinem Arbeitszimmer.

    Paß auf, schnarrte er, erstens wo du hinfährst und zweitens was du sagst. Kurz vor der Porte d’Italie, denn wir mussten in das Hotel Lutetia, denn dort sollte mein Mann, der schnatternde Ganter, vor handverlesenem Publikum lesen. Deutscher Botschafter, Kulturstaatssekretär auf französischer Seite plus das ganze Drumherum eben.

    Gerade wenn jemand wie mein Mann über einem hochsensiblen Bereich der Menschheit, der Beziehung zwischen Frau und Mann Bücher schreibt, sollte er sich vor Peinlichkeiten hüten. Das wusste mein Mann. Der ist nicht dumm, sieht die Welt aus einem bestimmten Winkel, ausschnittsmäßig und entwickelt dazu eine Vorstellung vom Ganzen. Ein Verfahren, welches in meinen Augen nur fehlerhaft sein kann, denn es gibt auch Dinge, bei denen man nicht vom Detail auf das Ganze schließen kann, ohne sich schwer zu vertun. Um ehrlich zu sein, mein Mann ist das beste Beispiel. Ich glaubte eine kurze Zeit, hinter seiner Betrachtungsweise würde sich diese so in kurzen Ausschnitten angedeutete Welt tatsächlich befinden. Es waren schöne Ausschnitte. Aber ich habe begriffen, dass ich ihm wegen dieser Täuschung nicht böse sein kann. Er konnte die Dimension seiner Beschreibungen genau so wenig begreifen wie ein Marienkäfer die deutsche Rechtschreibung begreift. Vielleicht macht gerade das seinen Erfolg aus. Diese unbeabsichtigte Komik, die sich in seiner an sich tragischen Sichtweise verbirgt.

    Paß auf, wie meinst du das, gnatterte er wie ein schlecht eingestellter Radiosender. Jetzt war er wieder am bohren.

    Wie ich es sage. Hüte dich vor Peinlichkeiten.

    Kurze Denkpause bei meinen Mann.

    Dann

    Verstehe. Du meinst die ganze Sache zwischen der 56 und 72 Seite. Wo sie zu ihm sagt, sie würde auch aus lauter Liebe zu ihm nackt einkaufen gehen.

    Ob ich das meinte, fragte er.

    Der ganze Blödsinn mit gehören und gehorchen, genau, sagte ich, wer redet denn so? Niemand. Und Frauen schon gar nicht.  Als Antwort folgte wie ich es erwartet hatte ein Vortrag über das Entstehen von irrigen Meinungen in den Köpfen des weiblichen Gehirns. Da kannte sich mein Mann schon immer sehr gut aus, zumindest meinte er das. Allgemein gesprochen haben wir es hier mit einer weiteren Eigenart des Mannes zu tun. Seiner Überheblichkeit. Die Herren wissen alles aber verstehen nichts. Bahnhof. Glauben aber, sie blicken schwer durch. Besonders was uns Frauen angeht. In Wirklichkeit haben sie keine Ahnung. Darüber muss ich bei meinem Mann schon seit Jahren lachen. Es kommt mir vor als erlebe ich eine nicht enden wollende Komödie. Deshalb habe ich ihn ja auch geheiratet. Ich wusste, mit ihm würde es nicht langweilig und immer sehr, sehr komisch. Schon sein mündlich vorgetragenes Verlangen mich zu heiraten. Pass auf, schrie er mich an, völlig hysterisch und völlig unvermittelt, während eines Abendessens in einem Hamburger Nobelrestaurant. Ich dachte von hinten flöge eine Handgranate heran, deshalb warf ich mich nach vorne auf den Tisch, mit dem Gesicht versehentlich in die Vorspeise, alles stürzte zusammen. Aber mein Mann schrie unberührt weiter: Wollen wir heiraten. Aus dieser Geschichte hat mein Mann später gedreht, ich sei über seinen Antrag so gerührt gewesen, dass ich ohnmächtig geworden und mit dem Kopf in die Vorspeise (Feldsalat mit Sahnespecksauce) gefallen sei. Solche Dinge beschreibt mein Mann ohne jeden Respekt vor der Wahrheit und vor mir. Die Wahrheit kennt mein Mann gar nicht, die ist ihm fremd als Vorstellung oder Begriff. In seiner Welt gibt es nur Geschichten, die mit der Wirklichkeit so viele zu tun haben wie der Ankerplatz eines Schiffes mit der eigentlichen Seefahrt. Natürlich lasse ich meinen Mann gewähren, schließlich verkaufen sich seine Bücher sehr gut. Trotzdem kritisiere ich ihn. Ein Mann wie der meine lebt überhaupt nicht in der Neuzeit, höchstens körperlich, biologisch. Vom Sozialverhalten her bewegt er sich immer noch im Mittelalter, manchmal scheint er geradezu durch die Steinzeit zu schlurfen. Männer wie der meine und die Moderne sind ein Gegensatz während Frauen und die  Zukunft ein Paar, eine dynamische Einheit bilden. Das beweist er mir täglich geradezu mit einer rührenden Offenheit. Ohne es zu wissen. Ganz unschuldig ist er auf diesem Gebiet.

    In seinem seinem zweiten Roman lässt er auf einer einsamen Insel einen von der Zivilisation unberührten jungen Mann rumlaufen. Der lebt auf dieser Insel ohne Kleider, er kennt sie überhaupt nicht, und er schämt sich nicht, weil ihm die Scham unbekannt ist. Eines Tages wird dieses seltsame Exemplar von zwei Tierforscherinnen eingefangen, mit einem Netz und in dem zappelt und strampelt der Nackte herum, aber er kann sich nicht mehr befreien und die Tierforscherinnen machen mit ihm wissenschaftliche Experimente. Spiel und Sexualtrieb werden genauso untersucht wie Auffassungsgabe und Erinnerungsstärke. Das wird auf 300 Seiten spannend und anregend geschildert. Mangelnde Fantasie ist kein Thema bei meinem Mann.

    Bei meinem Mann habe ich die Feststellung gemacht, dass sich das Unbewusste durch Worte zu erkennen gibt. In ihm schlummern noch Fragmente aus einer Zeit, in der der Mann es sich erlauben konnte über die Frau zu herrschen. Diese Epoche ist aber längst vorüber. Zwar kann sein Ich diese Tatsache begreifen nicht aber sein Unterbewusstsein. Das rebelliert immer noch, aber, es rebelliert in kontrollierbaren Bahnen. Mein Mann äussert sich sprachlich. Mit sprachlichen Mitteln versucht er die Umwälzungen, die zwischen den Geschlechtern stattgefunden haben und die ja noch lange nicht abgeschlossen sind, zu verarbeiten, mit seinen Mitteln. Er ist ja kein promovierter Soziologe.

    Nach den Erfahrungen, die ich mit meinem Mann gemacht habe, komme ich zu dem Schluß, dass zumindest er entwicklungsmässig zwischen dem Tier und der Frau steht. Aber das kann mein  Mann natürlich nicht einsehen, nicht akzeptieren, nicht zugeben. Aber er arbeitet dran. Wie soll er das auch so auf die Schnelle begreifen?  Schliesslich haben er und seinesgleichen über Jahrhunderte es geschafft uns zu unterdrücken. Nun ist seit einigen Jahrzehnten Schluß damit. Das ist natürlich für ihn gewöhnungsbedürftig.

    Mein Mann lebt in einem permanenten Irrtum. Er kann zwar aufrecht gehen und meint freie Entscheidungen treffen zu können. Ohne uns Frauen zu fragen. Anstatt auf uns zu hören und zu tun was wir ihm raten, widersetzt er sich, ist aufmüpfig und verhält sich oft kontraproduktiv. Wie es um sie steht, zeigt ja auch der auffällig entwickelte Sexualtrieb der Herren. Sie haben fast nur eine Sache  im Kopf und jede halbwegs intelligente Frau kann sich das zu Nutze machen. Die ewige Sucht nach Befriedigung ist die Schwäche des Mannes. Diese Triebbefriedigung macht ihn zum Sklaven. Männer sind alle mehr oder weniger abhängig davon. Daran liegt unsere Stärke. Wir können sie nach Lust und Laune benutzen. Als potente Zuchtbullen, als Schoßhündchen an der Leine oder wir sehen nichts als lustige Äffchen in ihnen. Leider können bei dieser Erkenntnis nicht alle Frauen mithalten. Deshalb sieht die Sache statistisch betrachtet noch recht ungünstig aus, aber ich bin sicher dass wir auf dem richtigen Weg sind.

    Ähnlich ausgeprägt wie der Sexualtrieb ist auch der Spieltrieb des Mannes entwickelt. Der Mann braucht nur einen Ball zu sehen und schon rennt er hinter ihm her und versucht ihn mit dem Fuß in einen Kasten zu schießen. Damit kann er sich jahrelang beschäftigen. Oder er fährt so schnell er kann im Kreis, Runde für Runde. Ohne zu Kotzen. Das ist doch sehr erstaunlich. Jede Art von körperlicher Bewegung fasziniert den Mann ungemein. Springen, laufen, stoßen, rutschen, sogar mit Tieren, damit verbringt der Mann sehr viel Zeit. Was ja nichts anderes bedeutet, als das der Mann eben, von einigen Ausnahmen abgesehen, etwas beschränkt sein muss. Bescheiden gesagt.

    Diese geistige Beschränktheit äußert sich auch im plötzlich ausbrechenden Aggressionstrieb des Mannes. Urplötzlich bricht es aus ihm heraus. Dann wird der Mann gefährlich, unberechenbar und wir Frauen müssen uns sehr in acht nehmen sonst endet die Sache unschön. Unzählige sind schon Opfer dieser Ausraster geworden.

    Wenn sich eine Frau einen Mann hält, muss sie wissen, dass der nicht immer zahm ist. Das unberechenbare können wir so schnell nicht ihm abgewöhnen, das ist der Rest des Tieres in ihm, das Restchen Ungezähmtheit, was wir ja auch lieben, wenn wir ehrlich sind. Diesen Kampf mit den Kerlen. Zeitweise ist das amüsant und anregend. Manchmal aber sehr lästig. Der Mann verträgt im Grunde keine Freiheit, sie macht ihn unglücklich und er stellt deshalb Unsinn an, gefährlichen Unsinn. Um das zu verhindern müssen wir ihn an die leine legen. Eben wie einen Hund, ein Tier eben. Es wird eine Gesellschaft geben, in der die Männer von Frauen als das behandelt werden was sie eben sind: Tiere, Tiere die auf zwei Beinen gehen und ganz hübsch anzuschauen sind und mit denen wir unsren Spaß haben. Das ist alles meine ganz pr9ivate Meinung über Mann. Zu den Erkenntnissen haben mich meine Studien gebracht, die ich über das Zusammenleben mit einem Mann gesammelt habe. Mit meinem Mann, den ich wenn ich ehrlich bin aus lauter Neugierde geheiratet habe, aus Lust am Erforschen sozusagen, um das Verhalten des Mannes hautnah zu erleben. In allen Bereichen. Im Grunde ist mein Mann mein Versuchskaninchen, meine Laborratte mein Reitpferd, mein bockiger Esel. Ich gebe ihm eine Süßigkeit und um diese wieder und wieder zu erlangen verhält sich so, wie ich es verlange. So dressiert man ein Tier. Und da sich der Mann  genauso verhält, müssen wir sagen, der Mann ist ein Tier. Er gehört in die Gattung Tier. Tiere kann man zähmen, wie eben auch der Mann zu zähmen ist. Wenn er nicht gehorcht gibt es saures. Kultur kann keinem Mann wirklich nahe gebracht werden. Die begreift sein Hirn nicht. Der Mann kann dafür ziemlich gut nachäffen. Das denkt er sei Kultur, hält es dafür, hält er für kreativ.

    Wenn mein Mann kreativ wird es ganz schlimm. Neulich sollte er den Tisch für acht Gäste eindecken. Eine komplette Katastrophe. Aber ich habe es doch nur gut gemeint, sagte er, es sollte doch auch nach etwas aussehen, schließlich kommt ja nicht irgendwer zum Abendessen.

    Aber deshalb brauchst du doch nicht alles mit Lorbeerblättern zu zudecken. Das macht man aber jetzt so.

    Das meine ich mit nachäffen. Der Mann sieht etwas und macht es sofort nach. Zwanghaft. Mein Mann sitzt vorm Fernseher und sieht einen Werbefilmchen, eine wirklich billige Produktion ohne Tiefgang und Logik. Plötzlich springt mein Mann auf, stürzt in die Küche und sucht Kartoffelchips. Die es natürlich nicht gibt. Sie machen dick und sind ungesund. Also bekommt er sie nicht. Oder aber er muss sie sich von der Tankstelle holen. Ich jedenfalls bediene ihn nicht damit. Also, er sucht und wühlt in der Küche, dann kommt er zurück und sagt:

    Paß auf, ich fahre noch einmal zur Tankstelle.

    Jetzt, frage ich, warum?

    Ich möchte schließlich wissen wo mein Mann um halb zwölf in der Nacht hinrennt. Deshalb habe ich meinem Mann beigebracht sich bei mir abzumelden. Er meldet sich zwar ab, hat aber in der Abmeldung einen unverschämten Ton, aber ich überhöre das zunächst.

    Ich will mir noch die Welt am Sonntag kaufen sagte er.

    Und mit was kommt er zurück Mit einer tüte Chips. Im Fernsehen gesehen und sofort raus und kaufen. Und dabei noch lügen. So sind sie nun einmal. Aber ich dachte mir, das hat ein Nachspiel. Das hört sich alles ab wie lifesyle und Magarine, entspricht aber den Tatsachen. Während er auf dem Weg zur Trankstelle war, dachte ich mir eine kleine Überraschung für ihn aus. Ich zog mich um, dimmte die Beleuchtung und legte mich aufs Bett.

    Manchmal befürchte ich, dass ich den Ton, der sich in diese Seiten eingeschlichen hat, nicht mehr verändern kann. Diese  sich in Andeutungen ergehenden Sätze mit diesen absolut peinlichen Inhalten.

    Ob ich das meinen würde, diese Textpassagen.

    Er kannte seine werke erstaunlich gut. Er konnte aus dem Stegreif ganze Seiten auswendig hersagen. Paß auf, ich zitiere jetzt wirklich, sagte er.

    Peinlich oder nicht sagte ich, mit dem was du da bisher abgeleiert hast kannst du dich nicht zur Ruhe setzen, es sei denn, dir ging es nur darum schnell viel Geld zu verdienen. Er könne nur das schreiben, was er glaube, antwortet er, oder sehe, empfinde, fühle, erfahre und erlebe. Auch typisch für meinen Mann. In Situationen wo es für ihn eng werden könnte verfiel er ins Aufzählen, als müsse er vor seinem ende noch alles loswerden, was er schon immer sagen wollte und dabei verhaspelte er sich natürlich und variierte zwanghaft die Begriffe. Er sagte das auf wie ein Schüler ein Gedicht hersagt, geradezu rührend in seiner pedantischen Betonung. Ich lasse ihn gewähren. Schon seit Jahren. Das ist das Geheimnis meines Erfolges.

    Durch die grünen Gläser meiner Sonnenbrille sah mein Mann auf dem Beifahrersitz aus als sei er  aus Glas gefertigt, so dünn und durchscheinend wirkte er. Dazu krallte er sich mit der rechten hand an den Türgriff und wenn ich bremsen musste bremste er automatisch und schreckhaft erstarrt mit. Ich weiß wie ich in Paris Auto fahren muss.  Mein Mann ist mit den Jahren zu einem Heiligen aus Glas geworden, zu einem der sich einbildet er sei ein Heiliger. Mit seinem Wahn lebt mein Mann immer noch im Mittelalter. Vor der Zeit der Aufklärung jedenfalls.

    Vom Erfolg dieses Buches  habe ich ihm ein kleines Haus, welches direkt unter einer verfallenen Festung in einem kleinen Ort in Frankreich steht,  gekauft, an der Loire, nicht weit von Paris. Dorthin zieht er sich zurück um zu arbeiten. In letzter Zeit fällt mir vermehrt auf, dass mein Mann anfängt wunderlich zu werden. Seine Fantasien beherrschen ihn mehr und mehr und er scheint sie nicht mehr von der Wirklichkeit trennen zu können. Für seine Schreibarbeit ist das gut, für das funktionieren im täglichen Leben aber hinderlich. So hat er mir neulich erzählt, er habe schon einmal in diesem Dorf gelebt, im zwölften Jahrhundert. Ich fragte ihn sofort, ob er diese Behauptung beweisen könne. Durch seine Anwesenheit, sagte er nicht sehr logisch. Du bist die erste der ich das erzähle, sagte er. Das hört jede Verlegerin gern und um ihm Mut zu machen, schenkte ich ihm noch einen tüchtigen Schluck eiskalten Sancerre ins Glas.

    Paß auf, sagte er, ich habe hier schon im zwölften jahrhundert gelebt hier, im Chateau gailklard, als Graf. Das war typisch für meinen mann. Seit Jahren schon hat er einen Adelstick und hält sich besonders in Nachtzeiten für einen Grafen.

    Ich war jung, sagte er.

    Aha, sagte ich.

    Und verliebt. In  die Tochter der Bäckerfamilie.

    Nicht sehr standesgemäß, bemerkte ich.

    Wenn man verliebt ist, spielt das keine Rolle.

    Aha, sagte ich.

    Hier im Garten habe ich mich mit Emilia getroffen.

    Aha, sagte ich.

    Dann begann mein Mann Emilia schwämerisch zu beschreiben. Dunkle Haare, grüne Augen, ein schmales nachdenkliches Gesicht, meist mit einer steilen Stirnfalte zwischen den Augen, die Brauen länglich gekurvt, der Mund oft spöttisch, die Lippen beweglich mit einer Lieblichkeit, dass er, mein mann, ganz verzückt guckte. Der Körperbau von harmonischer Perfektion und ihre Bewegungen sinnlich beherrscht, lasziv und lüstern aber auch kindlich unschuldig. Unbewußt selbstverstäbndlich, ergänztr mein Mann.

    Natürlich, sagte ich, unbewusst.

    Sie siebzehn, ich neunzehn.

    Aha, sagte ich.

    Paß auf, sagte mein mann, an alkle Einzelheiten kann ich mich auch nicht mehr erinnern. Ich habe jedenfalsl hier oben im Obstgarten gestanden. Von hieer hat man immer noch einen Blick auf die Stadt und die Straße hinauf zum Chateau, die hat sich immer so geschlängelt wie bdas jetzt auch nich macht. Ind da komnnte ich Jukiette immer sehen wie sie, gekleidet in ihre hellbraune Tunika und dem Holzsandeklen an den Füssen mit dem gefüllten Brotkorb hinauf zum Schloß wanderte. Erst ging sie in die Küche und leiferte die Backwaren ab und dann kam sie zu mir den gharten und wir setzten uns auf die Steinbank.

    Und, fragte ich.

    Und hielten Händchen. Noch was?

    Natürlich sagte ich, du musst an deine Leser denklen. Es sind ja zu achtzig Prozent Frauen. Die möchten gerbne wissen was ihr da noch so getrieben habt.

    Paß auf, sagte mein Mann, das kommt alles noch.

    Wo habt er es den getrieben? Im Weinkeller?

    Auch, aber am liebsten in der vollen Mehlwanne. Unten in der Bäckerei.

    Das ist mal etwas neues, sagte ich. Aber geht das überhaupt?

    Ich kann mich nicht mehr daran erinnern. Aber ich sehe noch den nackten Körper von Juliette, das heißt, er war nicht nackt sindern von oben bis unten mit Mehlstaub bedeckt. Nd so stand sie am Fenster, nachts, und kämmte sich das Mehl aus den Haaren und sang mit leiser Stimme

    Dû bist mîn, ich bin dîn.

    des solt dû gewis sîn.

    dû bist beslozzen

    in mînem herzen,

    verlorn ist daz sluzzelîn:

    dû muost ouch immêr darinne sîn.

    Mein Mann hat einfach an manchen Tagen Spüli im Kopf.

    Achtung, sagte er, ich glaube du bist Juliette. Er sah mich an als habe er einen Sechser im Lotto gewonnen. Zu so einem albernen Beuteblick sind auch nur Männer fähig. Dafür, dass du seit dem zwölften Jahrhunderts in Frankreich lebst, sprichst du aber ein miserables Französisch, sagte ich. Und was antwortet er? Er habe nicht die ganze Zeit in Frankreich gelebt. Um dumme Ausreden ist mein Mann nie verlegen. Wo er denn die ganze Zeit gelebt habe, wollte ich wissen. Darauf die geheimnisvolle Antwort, mal hier mal dort.

    Mein Mann ist nicht von dieser Welt.  Allein schon seine Ernährung. Er verweigert konsequent jede Art von Gemüse, isst nie Obst, mag keine Kartoffeln, von Salat, Gurken oder Obst ganz zu schweigen. Mein Mann mümmelt lieber Bot mit Belag. Irgendwie fernräumig, dieses Verhalten. Sein Gang ist eilend, dabei biegt er den dürren Körper nach vorne. Abgesehen von dieser seltsamen  Lauftechnik betreibt er keinen Sport. Er bewegt sich rechtwinklig, Bögen oder Kurven sind in seinem Bewegungsrepertoire noch nicht gespeichert. Mein Mann ist ein Spielzeug aus einem anderen Jahrhundert. Als ich ihn das erste Mal nackt sah, entdeckte ich auf seiner linken Pobacke ein Zeichen. Als ich es mir genauer anschaute war es ein Großbuchstabe, ein E, das mich vom Buchstabentyp an eine Futura erinnerte. Was ist das, fragte ich meinen Mann. Ich weiß nicht, sagte er, ein Muttermal, damit wurde ich geboren. Mit einem E auf dem Po? Seltsam. Ich nahm eine Lupe und sah mir das Zeichen genauer an. Es war etwa so groß wie ein fünfzig Cent Stück. Es war flach und glatt und wirkte so als  sei es auf die Haut gestempelt. Als sei mein Mann nach Fertigstellung mit einem Firmenzeichen versehen worden.

    Wir saßen in der Coupole und beobachteten das  Leben auf dem Boulevard. Da eilten sie entlang, von links nach rechts und von rechts nach links, die Passanten, die Pariser, die Proleten, Poeten und Politiker, die Pensionäre, Pennäler, Penner und Philosophen  und dahinter schoben sich Stoßstange an Stoßstange Autos aller Fabrikate, Größen, Formen und Farben die Straße hinauf und hinunter. Und dazu wehte der Wind so international aus allen Richtungen gleichzeitig, dass es ein meteologisches Wunder war. Rechts neben uns fünf Japaner, links vor uns ein deutsches Ehepaar, hinter uns Amerikaner und schräg davon vier Spanier. Die Spanier, zwei junge Paare verschlangen Austern, tranken Weißwein und waren am Kichern. Die Amerikaner in Cordhosen und karierten Farmerhemden, Bartgeflecht im Gesicht, verspeisten Spiegeleier mir gerösteten Kartoffelstäbchen. Dazu tranken sie Champagner. Auf dem runden Tisch ein Buch: Quiet days in Clichy. Vor uns die Deutschen. Ein Mann, nackenstark, hoch ausrasiert am Hinterkopf, die Ohren noch rötlich vom abendlichen Weingenuss, ihr Haarschnitt ähnlich borstig blond, das Gesicht seltsam entweiblicht, der Blick prüfend streng in alle Himmelsrichtungen, vor sich eine Flasche Mineralwasser und Salatblätter aus Nizza. Die beiden sprachen laut und ungeniert über Hotelpreise, Restaurantpreise, Eintrittspreise, Reisekosten, Benzinpreise, Rentenansprüche und Krankenversicherungen und Frechheiten, Zumutungen und ähnliche urlaubsbedingten Unverschämtheiten. Rechts die Japaner, die mit Leidenschaft ihr Frühstück fotografierten, Croissant mit Lachs. Mein Mann, wie nicht anders zu erarten, genervt. Mein Mann hasst die Enge. Nur neulich, vorm Fernseher, als der Sportkommentator während eines Tenniswettkampfes zwischen Venus Williams und Justine Henin sagte, das Match wäre ja ein ganz enges Höschen, da brach er in schallendes Gelächter aus. Aber hier? Freiwillig würde er sich nie in ein Bistro oder eine Brasserie setzen. Ich muss ihn schon dazu überreden, fast zwingen.  Sein Hang sich von der menschlichen Gemeinschaft abzukoppeln ist sehr ausgeprägt. Die Ursache für dieses Verhalten liegt in frühkindlichen Erlebnissen, die meinen mann zu dem Schluß haben kommen lasen, die Menschen zu meiden. Ein Grund sind sicher seine Spitznamen. Entweder wurde er Butzi oder Prinz Doof gerufen. Jetzt saß, nein, hockte mein Prinz Doof zusammengekrümmt aber nicht unelegant auf einem geflochtenen Bistrostühlchen, die Beine aus Platzmangel übereinander geschlagen und durchforschte mit hochkonzentrierten Gesichtszügen die Speisekarte. Dabei war mir sofort klar, was er bestellen würde. Mein Mann bestellt in allen Bistros dasselbe: Croque Monsieur. Mein Mann ist ein echter Feinschmecker. Das steht fest. Der Ober, kurzes rotes Jäckchen, schwarze Hose kam und mein Mann bestellte wie ich es erwartet hatte einen Croque Monsieur. Dazu sagte er noch in seinem perfekten Französisch: Sans tout, ohne alles. Der Ober zog ein lustiges  Gesicht, seine bretonische Langnase wackelte vor Vergnügen, das schmale Bärtchen unter der Nase wellte sich wie Seegras an der Düne, die blauen Äuglein schauten schmeichelnd wie nur gallische Augen eine Frau betrachten können zu mir, dann wandte er sich an einen Kollegen, der lässig an einer Säule lehnte und rief: Monsieur möchte einen Croque sans tout. Und wieder zu meinem Mann: Ohne Brot, ohne Schinken, ohne Käse, ohne Teller? Ich musste lachen, was dem Ober schnmeichelte, denn er sagte zu mir, quelle histiore.  Mein Mann aber regierte humorlos bis hysterisch und bellte: Ohne Salat. Und zu mir: Ich hasse diesen Laden. Jetzt komm mal runter, sagte ich. Mein Mann verhält sich leider sehr oft wie ein kleines Kind. Vielleicht ist er das auch immer geblieben, denn nun war er beleidigt und schaute mit genervtem Gesicht an den Deutschen vorbei auf den Boulevard. Heul doch, stichelte ich weiter. Ich weiß schon wie ich meinen Mann reizen kann. Und um ehrlich zu sein, es bringt mir sogar Vergnügen. Ich könnte mich wegschmeißen vor Lachen, wenn ich sehe, was er für ein Gesicht zieht. Er flunscht, das heißt, er schiebt das Unterkinn nach vorne und fixiert starr irgendeinen Punkt in der Ferne. Von der Seite betrachtet sieht er aus wie ein Idiot. Was hat Butzi denn jetzt, fragte ich. Ich konnte es nicht lassen. Aber bevor Butzi etwas sagen konnte, brachte der Kellner meinen grand chreme und Butzi den gewünschten Croque. Auf seinem Teller lagen zwei cross geschmorte Toastscheiben. Zwischen den Scheiben hingen lappig Schinkenscheiben und oben auf dem Toast klebte gelber geschmolzener Käse. Neben dem Croque zwei Salatblätter, an denen mein Mann sofort seine Wut ausließ. Er deutete mit dem Finger auf die Blätter. Ca c’est quoi ca? Habe ich nicht ausdrücklich ohne Grünzeug bestellt. Ach, laß doch sagte ich, die Blätter esse ich. Daraum geht es nicht. Ich mag es nicht, wenn meine Anordnungen nicht befolgt werden, maulte er fast weinerlich weiter, schnitt aber ob nun hungrig oder nur neugierig ein Dreieck aus dem Croque, pikte das Teil auf die Gabel und hielt es prüfend ans Licht.

    Das sieht immerhin gut aus, stellte er fest. Er steckte sich das Dreieck in den Mund und begann darauf herumzukauen. Eine weitere Eigenart von Butzi ist, dass er kaum seine schneidezähne benutzt. Er srteckt sich alles seitwärst in den Mund. Mein Mann meint, wenn man etwas nicht benutzt könne es auch nicht kaputt gehen. Diese Auffasung ist natürlich vollkommen falsch. Ich habe ihm schon tausens mal gesagt, dass es genau anders rum ist, aber er hört nicht. Er wird es erst dann einsehen, wenn die Schneidezähne vor ihm auf em Tisch liegen. Er kaute konzentriert und mit dem Gesichtsausdruck des kulinarisch verwöhnten Feinschmerckers vor sichg hin und nachdem er den Bissen runtergeschluckt hatte sagte er: Der schmeckt gut. Als mein Mann sich ein zweites Dreieck aus dem Croque schneidet, beugt sich einer der japaner vom nebentisch zu Butzi. Can you please make an foto fromm e und my family. Und hält meinem mann eine Kamera hin. Je mange, sagt mein mann und auf deutsch: Und fotografieren kann ich auch nicht. Foto,m please, foto please, bettelt der japaner ungerührt weiter, offenbar weder des deutschen noch des französischen mächtig und schon gar nicht kann er verstehen, dass es Leute gibt, die nicht fotografieren können. Aber mein Mann ist technisch tatsächlich sehr unbegabt und Fotos sind ihm ein Greul, während ja der Asiate in der Kamera das dritte Auge sieht.

    Picture me, please, bettelt der Japaner weiter. Mein Mann legt entnervt das Besteck auf den Teller und nimmt die Kamera. Thank you, so nice, wait a moment. Die Japaner, zwei Frauen, drei Männer, rücken eng zusammen und strahlen Butzi an. Butzi sieht mich an. Verzweifelt, nach Hilfe flehend. Aber ich habe es mir schon lange abgewöhnt auf diesen Blick hereinzufallen. Ich helfe ihm nicht mehr, wenn er wegen einer Lappalie wie ein Kleinkind schreit. Als pädagogisch kluge Frau mache ich ihm aber Mut: Du schaffst das, sagte ich.  Das hilft. Mein Mann hält er sich die Kamera ans Gesicht und drückt mutig auf den Auslöser. Wait, sagt der Japaner. Die fünf gruppieren sich neu. Picture please. Butzi drückt wieder auf den Auslöser. Thank you, strahlt der Japaner.  And now picture from you. With your daugther. That is not my daughter, that is my wife, sagt mein Mann. Lucky you, sagt der Japaner, closer please. Ich rücke an meinen Mann. Der hält linkisch sein Besteck in den Händen und schaut verlegen auf seinen croque. Look at your wife, sagt der Japaner.  My croque is now cold, bemerkt Butzi. I order a knew one. Garcon, bring to my friend a warm Croque. Thank you so much. Nice to meet you. Er gibt uns seine Karte. Keno Attawari. Foodstylist. Okinawa.

    In dieser Stadt sind alle immer in Bewegung. Rauf ubnd runter, hin und her, denn einmal setzen kostet mindestens zehn Euro. Nach dem Cafe besuchten wir den Friedhof Montparnasse Über einen der  geharkten Sandwege, der  zwischen den Gräbern hindurch führte, rollte ein drolliges Gefährt. Dicke Gummireifen, auf dem Sitz ein Schwarzer in dunkler Uniform, die großen Hände drehten an einem kindlich kleinen Lenkrad, drei Schaltknäufe mit dicken roten Kugeln am Ende wuchsen aus dem Motorraum seitlich in die Höhe und im Rücken des Fahrers befand sich ein ovaler grüner Wassertank.  Aus einer sich langsam drehenden Düse wurden Wassertropfen verspritzt, Tränen der Trauer sausten durch die Luft und selbst auf meinem Gesicht landeten drei, vier Tropfen, die langsam an meinen Wangen abperlten.
    © Constantin Hahm 2014

  • Unbenannter Beitrag 183

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    Ich arbeite, nein, besser ich schufte für einen international anerkannten US-amerikanischen Verlag als Wortstaubsauger, als Wortdrehmaschine, als Wortverdauer, als Wortversauer, als  Wortverbrennungsanlage, als Wortplastiker, als Wortchirurg, als Wortpolizist, als Wortgestalter, also als Lektor in untergeordneter Stellung, sprich Haltung, also verkrümmt, verbuckelt und letztlich vollständig enttäuscht, enttäuscht von allem von den Frauen und sehr oft auch vom Wetter, aber an erster Stelle von den Frauen. In einer Fachzeitschrift, die ja bekanntlich immer lügen, habe ich gelesen, dass 83% der Männer von den Frauen enttäuscht sind. Die Gründe sind wie man so sagt vielschichtig. Das Wort erinnert mich immer an Gesteinsformationen, die Millionen Jahre alt sind. Den meisten Männern fällt das Gemeckere der Frauen auf die Nerven, ihr Hang alles besser zu wissen. Während ich diesen Gedanken trübsinnig nachhänge, sehe ich eine Fliege (Brachycera) an der Fensterscheibe innen und ich beobachte wie das Tier verzweifelt versucht die Freiheit zu gewinnen. Aber die Fliege wird das nie schaffen. Die krabbelt wie blöde die Scheibe hinauf und hinunter und somit ist die Fliege ein Sinnbild meiner selbst. Nach der Art, wie die Fliegen aus ihren Puppen schlüpfen, gliedert man sie in die Untergruppen der Spaltschlüpfer (Orthorrhapha) und Deckelschlüpfer (Cyclorrhapha). Ich bin mit Sicherheit ein Spaltschlüpfer. Ich könnte die Fliege befreien, indem ich das Fenster öffne, aber ich habe Angst, dass der Fensterflügel hinab in den Hof fällt und mit dem spitzen rechten Holzwinkel des morschen Rahmens in den Kinderwagen, der unten im Hof parkt, stürzt  und das Baby, welches dort im süßen Muttersaft selig vor sich hin dämmert, erschlägt oder aufspießt und ich, der vom Wahnsinn der Zeit umgarnte Junglektor, die restliche Lebenszeit in der schlecht sortierten Bibliothek einer Strafvollzugsanstalt verbringen darf, was bei genauer Betrachtung vielleicht gar nicht einmal so dumm wäre. Aus diesen Gedanken  reißt mich diese Frau Eisleben, die nichts weiter zu tun hat, als die eingegangen  Manuskripte auf den Schreibtischen der Lektoren zu verteilen. Ohne anzuklopfen fliegt die Tür auf und die Eisleben legt mir Nachschub auf den Tisch. Dann geht sie zum Fenster und öffnet ungefragt einen Flügel. Vorsicht, warne ich, der fällt runter in den Hof. Da steht ein gelber Kinderwagen und da fällt der Flügel rein und erschlägt ein bleiches dickes Baby. Glasssplitter im Kopf und so. Blödsinn, sagt die Eisleben, erstens hänge der Flügel korrekt in den Scharnieren und da unten würde auch kein Kinderwagen stehen, schon gar kein gelber. Dann müsse ich wohl Halluzinationen haben, sage ich. Mir würde es an frischer Luft fehlen, sagt die Eisleben. Hier müsse mal gelüftet werden, sagt sie, man ersticke ja förmlich. Ob sie sich Sorgen um mich machen würde, will ich wissen, aber immerhin habe sie eine Fliege gerettet. Eine was, will sie wissen und guckt, nein glotzt mich mit ihren dreiundzwanzig Jahren an, als habe sie die Nacht in der Disco mit ihrer besten Freundin verbracht und die heißt Extacy. Sie waren wohl wieder in der Disco, sage ich, Ihre Augen sehen ja aus, als ob Ihnen die Dinger gleich raus platzten. Sauen Sie bloß nicht meinen Schreibtisch voll. Oder trägt man die Augen jetzt so? Sie fragt, ob ich wisse was mein Problem sei? Natürlich, sage ich, ich bin ein böser alter Mann und beiße Ihnen gleich in den Arsch. Ich hätte doch gar keine Zähne mehr, lacht mir die Eisleben frech ins Gesicht und liegt mir eine froschgrüne Mappe auf den Tisch. Für Sie flötet sie, Frauen sind doch Ihr Spezialgebiet. Sie sind ein schnippisches kleines Ding, sage ich und sie sagt, vor Männern Ihres Schlages habe sie schon ihre Mutter gewarnt. Und wirft die Tür ins Schloss. Und ich schlage die froschgrüne Mappe auf und lese notgedrungen die Überschrift: Die Tonne. Aha, denke ich, die Tonne. Das klingt wirklich spannend. Ich tippe als unbedarfter Leser auf einen Umweltskandal, indem eine Tonne die Hauptrolle spielt. Sehr wahrscheinlich, denke ich naiv wie ich nun einmal bin, sehr wahrscheinlich ist die Tonne schlecht gesichert, rollt von der Ladefläche eines Lastwagens auf die Autobahn, am Horster Dreieck, dort kracht die Tonne auf die Fahrbahn, der Deckel springt ab, einer von diesen vollbescheuerten Audifahrern rauscht über den Deckel und verabschiedet sich nach rechts über die Leitplanke in diese kleinen Krüppelkiefern, während eine dickliche grünliche Soße aus der zerbeulten Tonne fließt und  gleich mal den ganzen Asphalt zerfrisst, aber hallo. So mit knarzenden Geräuschen und viel giftigem Dampf, also gibt es auch noch diverse Auffahrunfälle und die Hamburger Morgenpost berichtet live vom Schauplatz und die Gaffer, die sich bei solchen Großereignissen per Handy verabreden, verdampfen in Scharen und fallen alle tot um, weil ihnen der Dampf die Lungen zerätzt.  Der Lastwagen ist natürlich nicht versichert, hat aber ein Husumer Kennzeichen, ist also nicht in Polen oder Rumänien zugelassen, was einen fremdenfeindlichen Anstrich zunächst einmal ausschließt. Alles eine bekannte Scheiße. Und aus dem Dampf der Tonne formen sich meterlange glitschige Fettwürmer mit acht Köpfen, die alles auffressen was sie erwischen können. Autoblech, Glasscheiben, Leitplanken und Kleinkinder. Die Kleinkinder vernaschen sie quasi zum Nachtisch. Also Hamburg wird aufgefressen. Die Elbbrücken stürzen zusammen als seien sie aus Streichhölzern gebaut und so weiter. Hollywood hat auch schon angeklopft. Nun ja. Damit hier nun kein falscher Eindruck über die Tätigkeit eines Lektors in untergeordneter Stellung entsteht, muss ich natürlich auch Alternativen akzeptieren und dies schon deshalb, weil ich ja im Verlag von dieser Eisleben immer Manuskripte bekomme, sie sich im weitesten Sinne mit der Problematik Frau – Mann beschäftigen. Da kann ich Ihnen, lieber Leser, liebe Leserin gleich sagen, da hat ja in den letzten Jahren, was sage ich, in den letzten Jahrzehnten ein Paradigmenwechsel stattgefunden, der sich laut Dr. Google wie folgt definiert: In der Umgangssprache wird von „Paradigmenwechsel“ öfter in unspezifischerem Sinne gesprochen. Entweder sind dann für besonders wichtig gehaltene wissenschaftliche Entwicklungen gemeint oder beispielsweise ein Wechsel der Lebenseinstellung (etwa grundlegende Werte betreffend) oder auch Umbrüche in anderen lebensweltlichen oder fachlichen Zusammenhängen. Insofern könnte ich was die Tonne angeht noch eine Überraschung erleben, eine Liebesgeschichte lesen, die wirklich ans Herz geht. Vielleicht verliebt sich einer der Fettwürmer mit den acht Köpfen in eine lesbisch veranlagte Unfallärztin.

    Nach diesen Überlegungen und Erkenntnissen sah ich zur Uhr. Kantinenzeit. Obwohl das bei uns im Haus sehr flexibel gehalten wird. Wer Hunger oder Durst oder einfach eine räumliche Veränderung braucht, um wieder sachdienliche Gedankengänge formulieren zu können, geht in die Kantine, den Abfütterungsraum, der sich im Penthaus des Verlages befindet und keine Wünsche offen lässt. Sogar ein Swimmingpool ist für die Belegschaft vorhanden. Nur fehlt schon seit Monaten das Wasser. Bautechnische Hindernisse. Über das kulinarische Wohlbefinden wacht ein französischer Meisterkoch mit seinem Stab. Natürlich wird die Belegschaft nach modernsten Methoden abgefüttert. Die Fleischfresser kommen ebenso zu ihren gefüllten Tellern und Suppennäpfen wie die Vegetarier oder die Veganer. Auch ist der Speisesaal in vier Abteilungen aufgeteilt, die aber unterschiedlich groß sind. Der Bereich der Karnivoren ist schon ein ziemlich kleines Gehege, welches mit Gummibäumen eingezäunt ist, der Bereich der  Vegetarier, also dieser Salat und Gurkenfresser, im Gegensatz ziemlich groß, aber nicht ganz so groß wie der Bereich der Veganer und ähnlich groß wie der Fleischfresser ist der Bereich für die Leute die gar nichts fressen wollen. Der Küchenplan wird wöchentlich mit dem Betriebsrat durchgesprochen. In der lichtarmen Herbst und Winterzeit werden ärztlich geprüfte Vitamine ins Essen gemischt, die Frohsinn und Heiterkeit bewirken, denn es liegt ja auf der Hand, dass ein Konzern wie der von dem ich hier Rede keine kranke oder geschwächte Belegschaft gebrauchen kann, das stört die Auflage und die Rendite und gefährdet letztlich die Arbeitsplätze. Das Mobiliar ist aus Plastik und hellblau wie im Kindergarten. Hellblau soll den Appetit anregen. Grün zum Beispiel regt die Verdauung und die Ausscheidungsorgane an, deshalb sind die Waschräume für Damen, Herren und doppelgeschlechtlich fühlende Personen grün gestrichen, denn wenn eine Arbeitskraft stundenlang auf dem Klo hockt und wie man umgangssprachlich sagt nicht zu Potte kommt, geht dem Konzern wieder wertvolle Arbeitszeit verloren. Die sind ja nicht blöde, die da oben in der Chefetage. Die haben für solche Fragen fachkundige Berater und die werden um Rat und Meinung gebeten. Die Fensterfronten gestatten einen herrlichen, einen Blick, der wie ich oft höre zum Niederknien sei über den prächtigen Hamburger Hafen mit all seinen Schiffen, Kränen, Barkassen und sonstigen Spielereien einer den Weltmarkt versorgenden Handelsmetropole. Ich habe aber noch nie jemanden in kniender Haltung vor den Fensterfronten angetroffen, genau so wenig wie ich oft höre, das dieses oder jenes um Totlachen sei. Auch da fehlt es an Beweisen. Was allerdings den Ausspruch Das sei ja zum verrückt werden angeht, den kann ich bestätigen, der stimmt. Allein schon hier im Konzern arbeiten 1.300 Menschen von denen mit Sicherheit 1.299 in die geschlossene Anstalt nach Ochsenzoll gehören. Für die Ortsunkundigen: Ochsenzoll ist die Irrenanstalt Hamburgs. Wer der eine Normale ist, ist nicht schwer zu erraten. An den Zwischenwänden hängt leichtverdauliche Grafik. Wäre ja auch nicht gerade appetitanregend der Belegschaft Fotos von faschistischen Arbeits- und Vernichtungslagern aus der menschenverachtenden Vergangenheit des eigenen Landes anzubieten. So sieht man Liegestühle im Regen und Sonnenblumen im Feld. Der Fußboden ist mit rutschsicherem hellgrauen Linoleum ausgelegt, denn es wäre fatal, wenn die Damen und Herren mit ihren Tabletts ausrutschen würden und in den eigenen Fraß fielen. Die Beine der Tische und Stühle sind dünn und aus Chrom und die Möbel stammen all aus der Werkstatt eines portugiesischen Strafdesigners, äh, ich meine natürlich Stardesigners. Die Theke mit den unterschiedlichen Gerichten ist bestimmt dreihundert Meter lang. Da ich aber zu der aussterbenden Gattung der Fleischfresser gehöre ist mein Fressbezirk höchsten fünf Meter lang und gut überschaubar. Und man kennt mich. Wie immer, fragt der höfliche junge Mann in seiner weißen Verkleidung, der auf den schönen Namen Jerome hört, jedenfalls steht das auf seiner linken Brusttasche. Wie immer, sage ich. Also ein Wienerschnitzel mit Pommes und Majo.  Neben mir höre ich es im Vorübergehen abfällig hüsteln. Etwas mehr Toleranz wäre nicht schlecht, denke ich, lege meine Essensmarken auf den Tresen und wende ich mit meinem Tablett auf dem auch noch ein Stück Nusstorte Platz gefunden hat zu meiner Weide. Dort lasse ich mich an einem leeren Tisch nieder und schiebe das Tablett mittig vor mich. Alles Schiefe ist mir zu wieder. In Pisa könnte ich nicht leben. Draußen im Hafen geht’s schläfrig zu. Eine grüne Barkasse dampft wichtigtuerisch umher, sonst herrscht wie man umgangssprachlich sagt, tote Hose. Schön. Ich schaue mir mein Schnitzel an. Und mir stockt der Atem. Also das kann ich mir nicht bieten lassen. Das geht zu weit. Nicht mit mir. Auch ein Fleischfresser hat ein politisches Bewusstsein. Ich nehme also den Teller mit dem Schnitzel und gehe zurück zu diesem Jerome und halte diesem Kochknecht den Teller hin. Was ist das denn, frage ich. Jerome guckt erstaunt wie eine Gans, die eine Kuh erblickt. Blöder Vergleich. Das ist ein Schnitzel, sagt Jerome. Das sehe ich auch, sage ich, aber was für eine Form hat das Schnitzel. Schnitzelform eben, sagt Jerome und zuckt die Schultern. Schnitzelform, sage ich ungehalten, Sie halten mich wohl für blöde. Holen Sie einmal Ihren Chef. Nach ein paar Sekunden erscheint der Chef de la Cuisine. Was ich kann für Sie tun, Monsieur Birnbaum. Auf seiner mit goldenen Knöpfen benähten Uniform strahlen dort wo der Küchenknecht Jerome seinen Namen tragen muss, zwei gekreuzte Bratpfannen. Schauen Sie sich mal dieses Schnitzel an, sage ich. Ja, was ist mit diesem Schnitzel? Es sieht hervorragend aus, dünn gebraten, paniert, aus echtem Kalbfleisch. Ou est le problem?

    Das Problem ist die Form, sage ich, das ganze Teil sieht aus wie das großdeutsche Reich in seinen Grenzen von 1942.

    Comment?

    Ja, sehen Sie einmal genau hin. Hier Elsaß-Lotrhringen, Eupen-Malmedy. Meine Gabel macht den historischen Aufklärer. Weiter Südkärnten, Sudetenland, Westpreußen, Posen, Memelland sowie den eingegliederten Gebieten Luxemburg, Generalgouvernement und Protektorat Böhmen und Mähren. Haben Sie dafür eine extra Backform oder was?

    Geben Sie mal den Teller her, sagt der Küchenchef, das haben wir gleich.

    Er haut einen Haufen Senf ins Zentrum des Schnitzels und fragt mich, ob ich wisse was das wäre? Senf, sage ich verblüfft. Aus Dijon sehr wahrscheinlich.

    Das ist mehr als Senf, sagt der Küchenchef, dass ist die Hauptstadt des dritten Reiches. Berlin.

    Interessante These, sage ich.

    Es käme noch besser, sagt der Küchenchef, nimmt ein scharfes Messer und fragt mich wieder, was das wäre.

    Sieht aus wie ein Küchenmesser, sage ich.

    Das sei mehr als ein Küchenmesser, das ist die russische Armee. Und mit diesen Worten verschneidet er das Schnitzel. Er nimmt einen Pfefferstreuer. Ich weiß, dass ist ein Pfefferstreuer, sage ich, aber für Sie ist das was?

    Englische Tiefflieger, sagt der Küchenchef.

    Zum Schluss der Vorstellung schmattert er Ketchup auf die Pommes. Blut, schon klar, sage ich, und die Pommes sind deutsche Landser. Richtig, sagt der Küchenchef, und nun nehmen Sie Ihren Teller und putzen das weg. Oder soll ich das noch mal in der Mikro aufwärmen? Warum er nicht Professor für neuere Geschichte geworden wäre, frage ich, so anschaulich wie Sie das gerade erklärt haben, habe ich es noch nie gehört. Ich bin beeindruckt, nehme den Teller und gehe zurück auf meine Weide. Also, das Schnitzel schmeckt als sei es extra aus Wien eingeflogen worden, Küß die Hand Frau Gräfin, heute sehen Frau Gräfin wieder zum Anbeißen knusprig aus, wie ein Wiener Schnitzel eben. Die blutigen deutschen Landser schmecken auch nicht schlecht. Bei der Einspeichelung und Zerkauung der Schnitzelteile lasse ich mir Zeit. Ich gehe die Sache in aller Ruhe an und versuche auch links und rechts zu kauen, um eine einseitige Abnutzung meiner Zähne zu vermeiden. Gewerkschaftlich stehen mir 90 Minuten Kauzeit zur Verfügung. Da gibt es also keinen Grund alles runter zu schlingen. In sofern hat sich schon eine Menge für die Arbeitnehmer verbessert. Die Geräusche in der Kantine sind gedämpft und kultiviert. Hier stößt niemand laut auf oder grölt nach Bier. Die Damen sind was meine täglichen Zählungen angehen eindeutig in der Überzahl. Die männlichen Mitarbeiter im Haus sind alle aufs beste abgerichtet. Da blökt keiner mehr und wenn, dürfte er auf der mit Zierbäumen bestückten Terrasse sofort entmannt werden. Zum Schluss dieser lehrreichen Mahlzeit nehme ich mir das hellbraune Napfküchlein vor. Erinnert mich jetzt sofort an Nürnberg. Also drücke ich mit dem Löffel, der sich in einen amerikanischen Sturzbomber verwandelt  das Küchlein platt. Und während ich da so drücke und matsche, sehe ich im veganischen Bereich der Kantine, diese Eisleben, wie sie in einem offenbar hochwichtigen Gespräch mit zwei Damen aus der oberen Führungsetage sitzt. Nach meiner Einschätzung der Dinge kann es sich dabei nur um die Entlassung der Eisleben handeln, denn die Dame sieht zwar ganz ansprechend aus, aber ihre fachlichen Fähigkeiten scheinen mir doch eher unterentwickelt zu sein. Und was ist das überhaupt für eine Arbeit immerzu Manuskripte zu verteilen oder einzusammeln. Dafür hat die Dame zwölf Semester Germanistik studiert. Armes Kind, denke ich, das Beste für dich wäre, du würdest so schnell wie möglich heiraten. Hier in der Firma laufen doch genug Hirnis rum, die ganz scharf auf so verklemmte Sexbomben sind. Und die Eisleben ist eine verklemmte Sexbombe, eine von der Sorte, ich weiß was ich bin, aber ich sag es nicht jedem. Wozu auch. Man sieht es ja auch ohne Worte. Ich jedenfalls. Bei den Veganern werden Papiere ausgetauscht. Sehr wahrscheinlich die Entlassungsdokumente, die die Eisleben nun unterschreiben muss. Ich würde die Eisleben heiraten. Bei mir hätte sie es gut. Aber die Frauen glauben mir das ja nicht. Bisher nicht. Vielleicht ist die Eisleben ja anders. Nachdem ich nun bei diesen erhellenden Gedankengängen Nürnberg verputzt habe, fühle ich mich zwar gestärkt, aber auch müde. Am liebsten würde ich gleich hier am Tisch einschlafen, aber das geht natürlich nicht. Also stehe ich auf und gehe betont langsam an dem Tisch der Veganerdamen vorüber. Vielleicht kann ich Gesprächsfetzen aufnehmen und sinnvoll ergänzen. Leider wird daraus aber nichts, denn der Chef de la Cuisine spricht mich von links laut an und fragt wie mir das Großdeutsche Reich bekommen wäre. Gut, sage ich, bisher musste ich nicht brechen. Kotzen wollte ich wegen der Veganerinnen nicht sagen, reihern finde ich blöde, spucken albern. Mit diesen Worten entfloh ich aus dieser Stätte der Sättigung zurück in mein Einmannraumbüro, nahm brav abgerichtet an meinem Schreibtisch Platz und schlug das Manuskript mit dem Titel ‚Die Tonne’ auf. Willkommen bei den Fettwürmern, dachte ich, nahm meinen Rotstift und schaute zur terminlichen Absicherung auf die Uhr. Vierzehn Uhr. Jedes Manuskript bekommt von mir eine Stunde. Wenn es dann nicht funkt, weg damit in die Ablage Schredder.

    © Constantin Hahm 2012