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Letzten Sonntag unternahm ich mit meinem liebevoll restaurierten VW-Cabrio, Baujahr 1967 bei herrlichem Wetter einen Ausflug aufs Land. Ich sah was auf solchen Fahrten zu sehen ist. Breite Bauernhöfe, haushohe Heuschober, faltige Felder, klobige Kühe, tiefblaue Teiche, lärmende Leute, verlaufene Liebespaare, gelangweilte Gänse, spindeldürre Spargel und am Straßenrand feiste Figuren, die drohend mit dem Daumen winkten.

Ich liebe das Land. Dieser Geruch nach Erde, Kuhscheiße und frischem Spargel wirkt bei mir wie bei anderen der Wein, also rauschhaft.  Und wenn ich einmal reich sein sollte, dann kaufe ich mir sicher ein Haus mit einem Acker, denn nichts ist bekömmlicher für Leib und Seele als das Bestellen der eigenen Scholle, nichts führt zu mehr Glücksgefühlen als der Verzehr selbst angebauter Produkte. Ungespritzt und ungeklont.

Allerdings habe ich auch Gegenteiliges vernommen, von Leuten gehört, die voller Elan Schafe züchten wollten und dabei gegen Krankheiten und unheilbaren Seuchen zu kämpfen hatten. Die sie natürlich nicht besiegen konnten und so war der Traum vom ehrlichen Leben auf dem Land auch bald ausgeträumt und sie mussten das Feld auf dem die gesamte Herde, 234 Exemplare, begraben lag im wahrsten Sinne des Wortes räumen.

Der Weg durchs Leben ist ein Labyrinth, ein undurchschaubares Gespinst, eine Landkarte auf der nichts stimmt. Weder der Maßstab noch die Himmelsrichtungen, weder die Ortsbezeichnungen noch die Namen der Flüsse.

Was dicht bei liegt, wie der Seemann sagt, ist in Wirklichkeit Kilometer weit entfernt. Und das Gute kommt in Gestalt des Bösen oder umgekehrt. Und was heute als wahre Begebenheit verkündet wurde, entpuppt sich am nächsten Tag als Lüge. Keiner weiß mehr was stimmt und wo es langgeht und viele verlieren in diesen Situationen den Kopf. Sie geraten in Panik, schenken den Falschen vertrauen, verarmen und sitzen zum Schluss jammernd vor der Tür staatlicher Institutionen.

Andere verlieren jedes Maß und scheffeln mit dümmsten Banalitäten gewaltige Vermögen zusammen, bis sie eine Summe erreicht haben, mit der sie die ganze Welt vom Hunger befreien könnten, der nun auch mich plagt. Hier, in dieser Gegend wurde vorgesorgt.  Es gibt auffallend viele Gasthäuser. Ich parke vor dem Landgasthaus Schlohmeier.

Die Gastube ist ländlich nach Gutsherrenart dekoriert. An den Wänden prächtige Geweihe, die Tische mit weißen Tüchern belegt und vornehmest eingedeckt. Unterteller, Oberteller, silbernes Bestecke, Blumengebinde, hölzerne Wappen, dicke Balken. Nur ein Tisch hinten am Fenster ist besetzt. An diesem sitzen zwei Herren. Der eine mit dem Gesicht zu mir. Im Anzug, Brille, das Gesicht von feinen Lebensspuren edel gezeichnet. Der mit dem Rücken zu mir ist feister, sitzt offenbar vorgebeugt, denn der kräftige nackte Schädel glänzt matt von hinten beleuchtet in der Mittagssonne.

Ich setzte mich an den anderen Ecktisch in dieser Reihe. Zwischen mir und dem anderen Tisch stehen noch mal sechs Tische, diese wie schon gemeldet unbesetzt. Der Ober kommt, ich bestelle ein Wiener Schnitzel mit Bratkartoffeln und frischem Feldsalat, dazu kaltes Mineralwasser. Der Ober geht und ich entspanne mich, denn, wie jeder, der ein Cabrio fährt, weiß, hat man nach einer Freiluftfahrt leichtes Ohrensausen, welches sich dann aber in geschlossenen Räumen schnell legt. Und so  hörte ich plötzlich die Stimme von diesem Glatzkopf, erst leise dann laut und verständlich, über eine Distanz von geschätzten fünfzig Metern.

…sechs Millionen Etat von der Shell,  das musste nur noch einmal präsentiert werden und was macht Marc? Der geht lieber segeln. Und ich im Urlaub. Alles vorher besprochen, sechs Millionen Etat, da war ich schon bei Porsche und hab den Cayenne bestellt. Schwarze Lackierung Hammerschlag, hinten auf dem Arsch Castrol und vorne auf der Haube so eine Tusse mit Wischtuch, einen sechs Millionen Etat setzt der in den Sand. Die von der Shell sitzen im Konferenzsaal und warten und warten, aber nichts  geschieht, weil Marc lieber segeln geht. Kein Verantwortlicher auf der Brücke. Da sind die von der Schell nach einer Stunde wieder abgezogen und wir hatten am Montag ein Fax von denen auf dem Schreibtisch liegen. Wir waren aus dem Rennen. Also, ich will den Marc jetzt als erstes aus meinem Haus schmeißen. Ich kann diese Fresse nicht mehr sehen.

Da brauchst du einen Kündigungsgrund, sagt der im Anzug.

Einen? Ich hab tausende. Zum Beispiel,  Marc hat oben auf seiner Etage eine komplett eingerichtete Küche, aber da sitzt er nicht, nein, der sitzt bei mir unten in meiner Küche, am liebsten mit Frauen. Die werden bekocht, die trinken meinen Wein und hören laut Musik, aber bei mir beschwert sich Marc, dass mein Telefon zu laut klingeln würde. Da würde er immer aufwachen.

Das ist aber…

…unverschämt. Genau das ist es. Unverschämt.  Fühlt sich vom Klingeln meines Handys gestört, kommt aber seit Jahren flötend die Treppe hinunter.  Wenn das wenigstens eine Melodie wäre, nein, es ist nur ein Ton, welchen er in ziemlich kurzen Abständen ausstößt. Meistens liegen fünf Sekunden zwischen den Tönen. Ich hab auf die Uhr geguckt. Ungefähr vor einem Jahr habe ich ihm das Pfeifen in meinem Wohnbereich untersagt.

Und hat er sich…

…daran gehalten? Das schon, aber seitdem lässt er die Zimmertür auf, wenn er mit Karin vögelt. Und die lacht immer ganz laut.

Das könnte…

…Absicht sein? Das ist Absicht. Aber ich kann zurückschlagen. Wenn das Fahrradhaus fertig ist, habe ich zu Marc gesagt, dann stellst du dein Fahrrad da rein, dann kommt das hier aus dem Flur raus. Da sagt der frech, er würde sein Rad nie in das Fahrradhaus stellen, das wäre ein Rennrad im Wert von 8000€. Dann stell es oben in deine Wohnung, habe ich gebrüllt und er hat gebrüllt, er würde gar nicht daran denken, dass Rad immer drei Treppen hoch zu tragen, er habe hier auch als Mieter Rechte. Ich habe ihm gesagt, er könne gleich mit meiner Rechten Bekanntschaft schließen. Der weiß genau, dass ich zuschlagen kann und Marc ist nicht gerade schwächlich. Das war an meinem Geburtstag. Selbst an dem Tag sitzt der unten der Küche, ich hatte ihn gar nicht eingeladen. Ich hatte nur Betty, unsere damalige Praktikantin, eine affenscharfe Dänin, eingeladen, die trug ein rotes enges Lederkleid und brachte eine Torte mit, extra für mich gebacken, du kennst ja das Foto. Mit Betty wollte ich den Abend verbringen, aber nicht mit Marc. Aber der Stumpfbock blieb einfach in der Küche hocken und glubschte Betty an. Und dann ist Betty aufgestanden und gesagt, sie ginge jetzt ins Bett. In mein Bett Das blöde Gesicht Marc vergesse ich nie. Und ein Foto von Betty, das habe ich immer in der Brieftasche. Also, wie bekomme ich jetzt diesen freilaufenden Gewindeschneider von der Backe?

Das sage ich Ihnen, wenn Sie mir das Foto zeigen, rufe ich zu meinem eigenen Erstaunen.

Was, fragt die Glatze und dreht sich um.

Wie, fragt der andere und macht einen langen Hals.

Ich habe alles mit angehört. Unfreiwillig, sage ich.

Was haben Sie denn für ein Gehör, staunt die Glatze und zieht aus der Jacke seine Brieftasche. Hier, das ist Betty.

Er hält das Foto hoch.

Kommen Sie her und schauen Sie sich die Frau an.

Ich erhebe mich, gehe ein paar Schritte, stehe am Tisch der Glatze und die drückt mir ein Foto in die Hand. Betty im ärmellosen Lederkleid, leicht nach vorne geneigt. Ich sehe einen hübschen Ausschnitt, einen schmalen Hals und einen lachenden Mund. Mehr nicht. Im Hintergrund noch unscharf einen Geschirrschrank mit blauen Tellern.

Hübsch, sage ich.

Die Glatze lacht wummernd.

Hübsch. So kann man es auch bezeichnen.

Dann reißt er mir das Foto wieder aus der Hand.

Genug geglotzt. Ich höre.

Sie können nach meinem Wissensstand diesem Marc ohne weiteres kündigen.

Sind Sie Anwalt?

Allerdings, sage ich, und mein Spezialgebiet ist das Mietrecht.

Mensch, sagt die Glatze, kann ich Sie briefen?

Dafür brauchen Sie keinen Anwalt, sage ich, der Fall ist eindeutig. Formlose Kündigung zum erstbesten Termin. Einfach in den Briefkasten oder unter der Tür durchschieben.

Was heißt erstbester Termin?

Der ergibt sich aus dem Mietvertrag.

Aber es gibt keinen Mietvertrag.

Wieso nicht?

Unter Freunden ist das doch nicht üblich.

Gerade unter denen sollten Verträge abgeschlossen werden. Denn ohne Verträge wird es komplizierter. Mündliche Absprachen sind anders zu bewerten als schriftliche. Aber ich empfehle Ihnen es mit der schriftlichen Privatkündigung zu versuchen. Wenn das nicht klappen sollte, rufen Sie diese Nummer an. Dann bekommt Ihr Marc eins auf die Nuss.

Ich kritzelte eine  ausgedachte Telefonnummer auf ein Stück Papier und schob es der Glatze zu.

Die helfen Ihnen garantiert.

Danke, sagt die Glatze, dafür bezahle Ihr Essen. Keine Widerrede. Danke.

Er gab mir die Hand und ich gab ihm die meine.

Das liebe ich an der Bevölkerung dieses Landstriches,  dieses unverstellte Brauchtum, dieses Gespür für Zufallsbegegnungen, dieses Jeder spricht mit Jedem, dieses Ehrliche, ein Handschlag ist mehr wert als zehn Verträge und zum Essen wird man auch noch eingeladen. Ich würde es ja genau so machen.  Gut gelaunt saß ich in meinem Wagen und schnurrte heimwärts in die Großstadt.

Auf dem Weg  zurück blieb ich jedoch auf der A1 in einem gigantischen Stau stecken. Es drehte sich kein Rad mehr und die Autos, an sich zur Bewegung gedacht, reihten sich in doppelter Spur erstarrt und leblos so weit das Auge reichte.  Talwärts gekurvt zwischen gelben Feldern hindurch und wieder hinauf ansteigend, grüne Waldflächen durchschneidend. Es gab kein vor und kein zurück. Die Gegenfahrbahn aber provozierend frei. Was hier zu viel war, war dort zu wenig. Die einen haben alles, die anderen fast nichts, dort die Freiheit, hier die Gefangenschaft. Der eine verdient zehn Millionen im Jahr, ein andere kommt bei größter Anstrengung nicht über sechstausend im selben Zeitraum. Natürlich gibt es für alles eine Ursache, aber auch die erkannten Ursachen sind nicht frei von Fehlstellungen, überlegte ich schläfrig und verbittert vor meinem Lenkrad sitzend.

Vor mir stand ein Volvo mit dänischem Nummernschild. Plötzlich wurde die Fahrertür geöffnet. Zuerst sah ich zwei Tennisschuhe, dann gebräunte Beine, dann rote Shorts, dann eine weiße Bluse mit schrägen Ärmeln und endlich einen Kopf mit kurzen blonden Haaren und einer Sonnenbrille. Die Frau ging zum Kofferraum. Sie klappte die Haube hoch und beugte sich tief in das Innere.

Manche Frauen machen mich nervös. Manche Frauen verwirren mich. Manche Frauen verursachen bei mir körperliche und seelische Veränderungen. Im positiven Sinne.  Ganz plötzlich befällt mich Sprechlust. Normalerweise bin ich maulfaul. Zündende Geistesblitze, witzige Worte, charmante Anspielungen zischen wie Feuerwerksraketen um die Ohren der anderen. Sonst gelte ich auf diesem Gebiet als Trantüte, als Langweiler, als stumpf, humorlos und hölzern, aber die Gegenwart, die Anwesenheit, das Dasein, die pure Existenz mancher Frauen bewirkt eine erstaunliche Verwandlung, Metamorphose bei mir. Ich lächle liebevoll ohne blöde zu grinsen. Meine Aussprache ist sauber, rein und fein tönend. Ich spucke nicht und vermeide gekonnt alle Zweideutigkeiten. Ansonsten ist auch das eher nicht der Fall. Üble Schimpfworte, drastische Vergleiche und gemeine Hinterhältigkeiten bemächtigen sich meiner anfallartig, besonders an Tankstellen, in Supermärkten oder überhaupt im öffentlichen Sozialraum.

Nun, dieser Fabulierdrang lässt ja schon ahnen wohin die Reise geht.

Jedenfalls stieg ich auch aus, schlenderte mit betont besorgter Miene zum Vorderteil meines Autos, drückte mit der Spitze meines rechten Schuhs gegen den Gummimantel des Reifens und sagte laut und vernehmlich:

Das ist ja grauenhaft.

Mit den Worten ‚Sie meinen doch wohl nicht mich‘ tauchte der Oberkörper der Frau aus dem Kofferraum und wandte sich zu mir. Sie nahm die Sonnenbrille ab. Kühle blaue Augen sahen mich an. Auf ihrer Nase saß ein frecher Schwarm Sommersprossen.

Das wäre wohl…, beteuerte ich. Nein, nein, dieser Stau. Das könnte das Ende sein. Das endgültige Aus für die Industriegesellschaft. Hier bewegt sich für Jahre nichts mehr.

Um mich zu widerlegen, knatterte ein Hubschrauber über unsere Köpfe. Er kurvte in Schräglage über das lackierte Blechband der Autodächer und verschwand im blauen Dunst.

Hier, nehmen Sie mal eine Erfrischung aus meinem Eisbag, sagte die Frau. Das bringt Sie auf neue Gedanken.

Danke, sagte ich, Sie haben mir das Leben gerettet. Ich war schon am verdursten.

Sie übertreiben

Im Gegenteil. Das Verdeck meines Autos klemmt. Seit Stunden brennt mir die Sonne auf den Hinterkopf.

Ich nahm einen tiefen Schluck aus der kalten silbernen Dose.

Jetzt geht es mir schon besser, viel besser.

Die Frau reichte mir bis zur Schulter und hatte gebräunte Arme.

Was machen Sie hier, fragte ich hochintelligent.

Ich warte. Wie Sie.

Und wo kommen Sie her?

Aus Dänemark.

Nein, ich meine, heute, denn Sie fahren ja in Richtung Norden, dass heißt, Sie müssen aus dem Süden gekommen sein. Dänemark liegt im Norden, wenn ich mich nicht täusche.

Aus Göttingen. Ich studiere an der Universität Literaturwissenschaft.

Oh, sagte ich beeindruckt. Und was genau?

Die Literatur des Barocks. An was denken Sie, wenn Sie das Wort Barock hören.

An…Kurven. Geschwungene Beine…bei Möbeln.

Das Wort kommt aus dem Portugiesischen und bedeutet geschwungene Perle.

In den Augen der Dänin brannte ein Licht, dass mich magisch anzog.

Wir gingen auf der Standspur spazieren, fast wie ein verliebtes Paar. Hinter einem gelben Weizenfeld ragte das rote Dach einer Scheune hervor. Zur linken Seite wellten sich grüne Weiden, die mit schwarzweißen Kühen bestückt waren und hinten am Hang krabbelte ein blauer Trecker über einen braunen Acker. Ein Käfer aus Eisen und Stahl.

Ich betrachtete die geschwungene schiefe Perle aus den Augenwinkeln. Mal erschien sie mir konvex, mal konkav, mal hell, mal dunkel, mal länglich gestreckt, mal rundlich gestaucht. Die Form war so wechselhaft und fließend in der Bewegung wie die Kornfelder die der warme Wind wellenartig bewegte.

Das Barock, sagte die blonde Perle, war eine Epoche ausgeprägter Gegensätzlichkeit. Wie hier. Auf der einen Seite diese Autos aus Blech, Chrom und Glas, die unterschiedlich in Form, Farbe und Größe aufgereiht wie Perlen an der Schnur hängen,  bewegungsunfähig und damit das genaue Gegenteil ihrer eigentlichen Bestimmung geworden sind. Eine Sache die zur Bewegung entwickelt wurde kann sich nicht mehr bewegen, weil sich zu viele bewegen wollen. Es ist das Zerren und Reißen an den Ketten der Zeit. Sehen Sie sich doch nur diese Gesichter an. Verzweifelt, niedergeschlagen, wütend, frustriert, gedemütigt, der Lächerlichkeit preisgegeben, denn was nützt nun dieser BMW oder Mercedes mit 380 PS und Navigationsgerät, wenn man sich nicht mehr damit bewegen kann? In diesen Augenblicken erinnern sich viele an die Vergänglichkeit und die Gewissheit sterben zu müssen verdunkelt das Gemüt noch mehr. Alles ist und fühlt sich kalt und leblos an. Und das bei diesen Temperaturen. Das ist barock. Eben schief, krumm, gebogen, gewellt, gestaucht, gestreckt und in sich verdreht wie diese Autobahn, diese A1. Und was machen wir?

Wir, fragte ich vom Wortrausch der Dänin gedanklich zerzauselt wie die Federwolken, die in der Ferne über dem Horizont standen, fast so, als läge hinter dem Horizont jemand im Gras und bliese weiße Wölkchen in den Himmel.

Wir rufen Carpe Diem, genieße den Tag, das Licht, die Wärme, die Sonne, das Leben, jede Sekunde, Minute und Stunde.

Mit Ihnen immer, sagte ich, da kann dieser Stau so lange dauern wie er will.

Wo wollen Sie heute noch hin, fragte ich.

Am liebsten nach Hause, nach Kopenhagen.

Das schaffen Sie nie. Schauen Sie sich das hier an. Wir können froh sein, wenn wir hier lebend rauskommen. Kopenhagen, das wird nichts mehr. Vielleicht Hamburg. Aber auch das ist fraglich. Aber wenn Hamburg, dann sollten Sie bei mir übernachten und morgen frisch ausgeschlafen in die schöne Heimat fahren. Und falls es sich ergeben sollte, lade ich Sie zum Essen ein.

Sind alle deutschen Männer so nett wie Sie?

Sind alle dänischen Frauen so intelligent wie Sie?

Natürlich nicht, ich bin eine Ausnahme.

Ich auch.

Nach zwei Stunden ließ die Disziplin zu wünschen übrig. Auf der Standspur spielten Jugendliche Federball. Thermosflaschen machten die Runde. Aus den Radios quäkten Nachrichten, Sportberichte und Verkehrsmeldungen. Familienväter prüften mit fachmännischen Gesichtszügen die Befestigungen ihrer auf die Dächer geschnallten Surfbretter und Fahrräder. Bei den meisten dieser Transportkünstler befand sich das Damenrad über der mitfahrenden Dame und das Herrenrad über dem mitfahrenden Herren. Während der Untersuchung zogen sich die Herren die durchs lange sitzen schlapp gewordenen Hosen mit anmutigen Drehbewegungen wieder fester in den Schritt, während die Damen erfrischendes Parfüm in die Blusen kippten.

Ein Merkmal des gemeinen Volkszorns besteht darin, sich ein Ventil zu suchen, damit der aufgestaute Ärger verdampfen kann. Hinter uns schmorte ein Fischlastwagen, dessen Kühlaggregat alle fünf  Minuten brummend ansprang, was zur Folge hatte, dass die im Sonnenschein wankenden Autofahrer zurück zur ihren Fahrzeugen stürzten, in der Meinung, es würde endlich weitergehen. Nervlich durch diesen permanenten Falschalarm zermürbt, wurde der Fischlaster schließlich umringt und der Fahrer drohend aufgefordert seinen Diesel abzustellen.

Abstellen, brüllte der Fischfahrer von oben aus dem Fenster, bei der Hitze vergammelt mir ja die Ladung.

Haben Sie überhaupt eine Sonntagsfahrgenehmigung, schrie ein ganz Aufgebrachter und sprang wie ein bissbereiter Hund an der Außentür des Lasters hoch.

Wer bist Du denn, schrie der Fischfahrer.

Ich bin Polizist, kläffte es zurück.

Ja, aber Du bist pensioniert, Fredi, beruhigte eine Frau und zerrte ihren Gatten am Hemd zurück.

Pensioniert, höhnte der Fischfahrer.

Sie stellen jetzt den Motor ab oder es setzt etwas.

Leck mich am Arsch, du pensionierter Affe.

Wütend trat der Mann dem Laster gegen den Türschweller.

Noch einmal und es kracht, schrie der Fischfahrer und hielt einen wuchtigen Schraubenschlüssel in der Hand.

In dieser brenzligen Situation schaukelte rettend ein Kleinlastwagen aus dem Dorf heran. Mettmeiers Wurstwaren. Hinter ihm ein zweiter Wagen: Napoli-Eis.  Und ein dritter:  Pizza zum Mitnehmen. Das Dorf war erwacht und witterte ein Jahrhundertgeschäft. Von einer Staubwolke, etlichen Kindern, Hunden und Hühnern begleitet, kurvte die Karawane auf dem verockerten Feldweg heran. Aller Streit war vergessen, Jubel brach aus und jeder stieg über die Leitplanke, sprang über Wassergräben, kletterte über de Kuhzäune und stürzte den Händlern entgegen, die ihre Wagen am Rande des Weizenfeldes parkten, die Türen und Blechwände aufklappten und ihre Angebotstafeln raus hingen. Ich kaufte für die Dänin und mich sechs Thüringer Bratwürstel, von denen vier ihr Ziel erreichten, zwei fielen beim Rücktransport in einen Graben und blieben unauffindbar.

Inzwischen war die Sonne unter und der Mond aufgegangen. Über der Dänin und mir spannte sich ein geheimnisvoller Nachthimmel.

Schön, sagte ich.

Sehr schön, sagte die Dänin.

Wie heißen Sie eigentlich?

Betty

Betty?

Was ist daran so ungewöhnlich?

Nichts, nur habe ich diesen Namen heute schon einmal gehört. Darf ich Sie etwas fragen?

Bitte.

Haben Sie ein Lederkleid.

Warum?

Mir wurde heute ein Foto gezeigt von einer Frau in einem Lederkleid. Der Kopf war nicht auf dem Foto, nur der Oberkörper. Und die Frau hieß Betty und war auch Dänin.

Wer hat Ihnen das Foto gezeigt?

Ich weiß nicht, wie der Mann hieß. Ich habe nur gehört, dass er eine Werbeagentur leitet und mit einem gewissen Marc zusammengearbeitet hat, über den hat er sich aber mächtig aufgeregt hat.

Wie ultrawitzig, staunte die Dänin. Ich habe im letzten Jahr ein Praktikum in einer Werbeagentur gemacht, Media-Trust. Die wurde tatsächlich von einem Marc Meller und einem Thomas Storz geführt.

Der Fischfahrer und der pensionierte Polizist hatten Freundschaft geschlossen und brieten an einem Lagerfeuer friedlich Forellen. Neben mir diskutierten zwei Herren, die ich nach ihrem nüchternen Erscheinungsbild dem Bankgewerbe zugeordnet hätte die verwegenen Möglichkeit ein Stück aus der Leitplanke herauszusägen, Bohlen über den Graben zu legen und so den Weg in die Freiheit zu gewinnen.

Ein kühler Wind strich über jetzt schwarze Felder. Aus der Ferne brummte ein Hubschrauber heran, seine Suchscheinwerfer tasteten sich durch die Finsternis. Dann standen wir im Lichtkegel.

Hier spricht die Polizei.  Begeben Sie sich zu ihren Fahrzeugen. Gleich haben Sie freie Fahrt.

Lasst uns zufrieden, schrie der Fischfahrer, erst habt ihr euch nicht um uns gekümmert, jetzt kümmern wir uns nicht um euch.

Er nahm eine Forelle und warf sie in Richtung Hubschrauber.

Es war ein erhabener Anblick, als wir von unserer Hügelkuppe beobachteten, wie in weiter Ferne ein Auto nach dem anderen das Licht einschaltete und sich in Bewegung setzte. Dann kam die Reihe an uns. Ich verabredete mit der Dänin Betty, sie solle brav hinter mir herfahren. Aber kaum saßen die Menschen wieder in ihren Autos, wollte jeder so schnell wie möglich nach Hause und in dem ganzen Bremsen, Lichthupen und Gedrängel verlor ich die Dänin aus den Augen und in der Dunkelheit anzuhalten war auch unmöglich. Niedergeschlagen und mit dem Gefühl, die große Liebe getroffen aber nicht festgehalten zu haben, fuhr ich nach Hause. Erst jetzt fiel mir auf, dass ich die ganze Zeit auf etwas gesessen hatte. Es war die vom Fischfahrer in die Luft geworfene Forelle, die an meiner Hose klebte

© Constantin Hahm 2016