c-hahm-aluherz-vign400Heute Morgen, als ich benommen von einer gedanklich wilden Nacht an meinen Briefkasten wankte, fand ich in ihm neben der Stromrechnung einen Brief vom Kunstverein in H. Und dieser Kunstverein lud mich zu der Ausstellung ‚Ich und meine Kindheit’ ein, also, eine Frau V. fragte mich, ob ich zu diesem Thema etwas beisteuern könnte. Wollte. Hätte. Haben würde können. Bis zum … in acht Wochen. Mit freundlichen Grüßen.

Gute Frau V. antwortete ich im Geiste, während ich über die Dächer des Ortes einen prüfenden Blick in den Himmel warf und Zeuge wurde wie sich zu dieser frühen Stunde bedrohliche Morgenwolken positionierten, fast so, als handele es sich um die Sicherung eines ganzen Frontabschnittes, der sich vermutlich von U. bis B. erstreckte. Zum Schutz vor verseuchten Sonnenstrahlen. Von denen mein Nachbar von oben wie ich ihn nenne, schon welche abbekommen haben musste, denn wie sonst sollte ich es mir erklären, dass ein pensionierter Polizeibeamter gebückt durch seine Blaukohlreihen krabbelte und offenbar Ungeziefer in einen Eimer warf? Gute Frau V. sagte ich gönnerhaft, ich habe zu jedem Thema Bilder. Entweder schon gemalt oder aber noch zu malen. Ich und meine Kindheit. Ja, soll ich einen Teddybären malen? Oder was?

Diese arrogante Einstellung sagt eigentlich alles. Anstatt sich über die Einladung zu freuen, mäkelt der Herr Künstler wieder rum.

Nein, da muss ich widersprechen. Ganz so ist es nicht, denn ich weiß von mir, dass ich in alle meine Bilder immer eine Prise Kindheit gemischt habe. Vielleicht meint die Frau V. das?  Oder aber, überlegte ich weiter, während ich die elegant geschwungene Eingangstreppe zu meinem Atelier hinauf schritt, oder aber ich könnte neue Bilder, zu dem, wie ich meine leicht abgedroschenen Thema malen. Natürlich war mir, während ich in meiner Küche einen Schnellkaffee ansetzte, welchen ich noch mit drei Teelöffeln Weißzucker aufpeppte, natürlich war mir nach dem bisherigen Verlauf meiner künstlerischen Tätigkeit klar, dass alles was ich bisher gemalt hatte erst in hunderten von Jahren verstanden werden würde.

Werden würde. Im Badezimmer. Während des Zähneputzens. Mit dem Gesicht im Spiegel. Da kam mir meine ganze Kindheit richtig hoch. Bei diesem Anblick jetzt. Mit Schaum im Mund und einer elektrischen Zahnbürste. So wie ich diese Maschine zum Einsatz bringe, kann ich froh sein, wenn mir nicht Zahnteile in das Waschbecken fallen. So die Zähne zu schruppen. Der reinste Fanatismus ist das. Aber wie gesagt. Auch heute kein Zahnfleischbluten und somit auch keine Gebissbauteile im Waschbecken.

Aber was hat das mit meiner Kindheit zu tun?

Nachdem ich alle notwendigen Reinigungs- und Wartungsarbeiten an meinem Körper durchgeführt hatte, kippte ich in der Küche die Tasse Schnellkaffee runter. Danach bereitete ich mich auf das Malen vor. Diese Vorbereitungen ähnlich denen des Formeleinsfahrers K.R.. Der zwängt sich nämlich auch nicht einfach in seinen Boliden und rast los. Nein, der zieht sich seine Kombination an, die Stiefel, die Handschuhe, den Helm. Ich ziehe mir auch meine Kombination an. Und während K.R. mit prüfendem Blick die Reifen an seinem Fahrzeug betrachtet, reinige ich meine Pinsel. Was dem K.R. die Reifen sind, sind mir die Pinsel. Nach genauer Betrachtung der Wetter und Lichtverhältnisse gehen wir an den Start. K.R. mit seinem Boliden und ich mit den Farben Preußischblau, Ultramarinblau, Kadmiumrot, Kadmiumgelb und Titanweiß.

Countdown und ab die Farbe. Das muss einfach flutschen. Sagt sich leicht. Eine grundierte Leinwand ist schon mit dem Belag einer Rennstrecke zu vergleichen. Eine Leinwand kann zum Beispiel feine Unebenheiten wie Knotenbildungen  im Fadenlauf aufweisen, die man zunächst gar nicht bemerkt hat. Erst später beim Pinselstrich stören diese Buckel enorm, denn diese Hindernisse kosten Zeit. Die  Pinselspitze läuft aus der Bahn und beschädigt schon fertig gestellte Bildteile, die dann wieder restauriert werden müssen. Das wird besonders mühsam, wenn man sich in einem ganz anderen Farbspektrum bewegt hat. Dann muss man quasi an die Box und alles sorgsam durchreinigen.

Das kann schon  sehr wohl das frühzeitige Aus bedeuten. Nicht zu unterschätzen sind auch Wetterschwankungen während des Rennens oder Malens.

Mir ist schon kurz vor der Zielgeraden ein frisch und flott gemaltes Großformat (180×200) von der Staffelei gekracht, weil ich wohl aus Erschöpfung beim Lüften nicht daran gedacht hatte, dass sich ab Windstärke 4 eine gewaltiger Luftsog in meiner bescheidenen Bleibe entwickelt. Die Entstehung dieses Spiralwirbels ist nicht im Übersinnlichen zu suchen sondern erklärt sich aus der Tatsache, dass die Fenster, die ich fahrlässiger Weise geöffnet hatte etwa dreißig Meter von einander entfernt sind. Kanale Luftverwirbelung sagen die Fachleute dazu.

Der Wind riss mein zu 90% fertiges Bild von der Staffelei und schleuderte es wutentbrannt als sei das alles der letzte Mist mit der Farbseite über meinen verstaubten Steinfußboden. Nachdem ich das Bild umgedreht hatte sah ich, dass mein Tageswerk so kurz vorm geglückten Ende vernichtet war und bei noch genauerer Betrachtung entdeckte ich nicht zu reparierende Beschädigungen in anderen Bildbereichen.

Die grüne Krone des Apfelbaumes, an der ich seit vier Stunden gesessen hatte war zerschlirrt und hing wie umgebrochen auf einem der braunroten Dächer der zurückliegenden Häuser. Der Gartentisch mit dem gepunkteten Schirm schien umgestürzt, jedenfalls erkannte ich nur noch die Beine, der Rest verband sich seltsam verwachsen mit der Gartenhecke und im frischen Himmelblau hingen Dreckskörner, Staubflusen und Haare. Die so beschädigten Teile waren groß wie Kissenbezüge. Dazu kamen noch Verbeulungen in der Leinwand, denn diese hatte sich gedreht und war beim Stürzen über einen der Querträger der Staffelei geschlagen.

Als  K.R. drei Runden vor dem sicheren Sieg durch den Bruch einer Radaufhängung ins Kiesbett geschleudert wurde und seine Karre an der Reifenwand zerschellte, als sei sie eine Seifenkiste aus Sperrholz, musst er sich ähnlich gefühlt haben wie ich vor meinem zerstörten Bild.

Das sind dann schon Momente großer Verzweifelung. Am liebsten hätte ich den ganzen Krempel aus dem Fenster geworfen, alles raus, die Keilrahmen, die Farben, die Maltische, die Bilder, die Kunstbücher, alles was damit zu tun hatte, wollte ich vernichten, sowie K.R. als er noch leicht benommen in seinem Boliden hockte, der wollte auch alles hinter sich lassen, der hätte am liebsten sein Lenkrad dem Streckenposten an den Kopf geworfen und sehr wahrscheinlich hätte er am liebsten einen Reifen samt gebrochener Aufhängung seinen Mechanikern an den Kopf geworfen und diesen aufdringlichen Reporter mit seinen bescheuerten Fragen, dem hätte er am liebsten seinen Helm an den Kopf geworfen.

Die Gefahr des Kontrollverlustes ist in diesen Augenblicken enorm hoch aber K.R. und ich wir sind Profis. Wir verhalten uns professionell, das heißt, wir  geben dem Wunsch nach totaler Zerstörung nicht nach, wir verhindern Kurzschlussreaktionen wie Wutanfälle und wir reagieren uns auch nicht an Unbeteiligten ab. So hat K.R. die Helfer nicht weggeschubst und er hat auch keinen Stinkefinger in Richtung Haupttribüne gezeigt und ich habe auch nicht meine Katze vom Sofa geprügelt und auch nicht die Palette in einem Anfall von geistiger Umnachtung auf dem Teppich abgewischt.

Hat das vielleicht etwas mit Kindheit zu tun? Oder eher das?

3-maeuse-atelierIch habe drei Stoffmäuse. Diese Stoffmäuse heißen Heinz-Herrmann, Stoffmann und Jonny von Kassel. Letzterer ist ein Vetter von Stoffmann und Heinz-Hermann und wurde von meiner Freundin L. aus einem gläsernen Hochsicherheitstrakt über Ebay freigekauft und in die Familie eingegliedert. Das, nachdem mich L. schon lange verlassen hatte. Merkwürdiger Familiensinn.

Heinz-Hermann hat den Namen seiner Mutter angenommen und heißt Heinz-Hermann H. Bruder Stoffmann, der ältere, dem sind Namen scheißegal. Da kackt der drauf. Stoffmann ist ein Multitalent. Das heißt, er kann eine  Menge, aber leider nichts richtig. Darin ähnelt er wohl mir. Eine Zeit hat er als Kellner in einem Prominentenrestaurant in H.  gearbeitet. Wenn er davon erzählt lache ich mich krank. Handwerklich ist Stoffmann geschickt, manchmal arbeitet er am Limit, aber bisher hat er es geschafft weder einen Stromschlag zu bekommen noch mit Knochenbrüchen im Garten zu liegen, weil am Dach etwas repariert werden musste. Auch als Arzt hat er sich auch einen Namen gemacht. Er hat ein hölzernes Kniegelenk entwickelt, welches er mir implantieren möchte. Er  bastelt an einer Megabombe, hat erfolgreich die Ausbildung zum Baggerfahrer bestanden, aber auch als Lektor hat sich Stoffmann einen Namen gemacht.

Heinz-Hermann hat es auch zu etwas gebracht. Er besitzt mittlerweile eine Privatbank, die Heinz-Hermann Privatbank gegründet 1992 mit 100% Einlagensicherungsfond. Das will schon etwas heißen. Und Jonny von Kassel, der Vetter aus dem Hochsicherheitstrakt, der  arbeitet in dieser Bank als Privatsekretär von Heinz-Hermann. Ich bin in diesem Haushalt nur der Sozialfall.

Das Vertrauensverhältnis zwischen mir, Heinz-Hermann, Stoffmann, Jonny von Kassel und der mir oder uns zugelaufenen Grinsekatze ist bei allen Unstimmigkeiten, die es nun einmal in einer Gemeinschaft wie dieser gibt, geben muss und gegeben hat, gut. Probleme werden offen besprochen. Dazu haben wir im Flur unseres Landhauses eine große Schultafel gehängt und auf dieser wird unter anderen auch die ausgehende und eingehende Korrespondenz ausgehängt. Freiwillig natürlich. Und da lese ich vor Wochen diese Nachricht, die Stoffmann an seine Mutter geschrieben hat. Das nur zur Abrundung des Eindrucks, der durch meine Worte entstanden ist.

Äh, ja, liebe Mutter, hier ist nix los. Schnapp (mein Spitzname) laboriert an seinen Füßen. Der wird noch Fußexperte. Jetzt behauptet er, die Füße bräuchten Wärme und er duscht sie dreimal täglich heiß ab, dann tun sie erst mal nicht mehr weh. Aber so richtig hilft das auch nicht. Dann hat er sich über eine Internet-Apotheke Magnesium bestellt. Da isst er jetzt auch täglich eine Tablette. Des weiteren hat er sich heute Morgen sauber vermalt und jetzt zweifelt er wieder an seinem Talent, dabei interessiert das auch keine Sau. Die Nachbarin, eine  Frau D., hat Schnapp erzählt, dass der Mann ihr neulich eine Weinflasche auf den Kopf hauen wollte. Schnapp hat nur gefragt, ob die Flasche leer war, weil sonst wäre es Verschwendung. Die Grinsekatze läuft hier auch ein und aus. Des weiteren isst Schnapp jetzt Fisch und Reis. Jetzt muss ich Jonny beim Radieren behilflich sein. Heute soll Schnapp ausradiert werden.

Herzliche Grüße aus dem Landhaus.

Stofftier (Oberlektor)

Ist das auch Kindheit?

Nachdem ich mich also nicht habe gehen lassen, zogen, schlichen, trotteten, wankten, stolzierten, schritten, gingen, wanderten, liefen, huschten, hopsten, hampelten mir die Gedanken angenehm unsortiert durch den Kopf. Ziehen klingt nach Wolken. Schleichen nach Indianern, trotten nach Schafen, wanken nach Kriegsgefangenen, stolzieren nach prominenten Persönlichkeiten auf dem roten Teppich, schreiten nach Politikern beim Staatsempfang, gehen nach Normalität, wandern nach eigenverantwortlichen Personen im unteren Almauftriebsgebiet, laufen nach Leuten, die eine U-Bahn nicht verpassen wollen, huschen nach Kaninchen, hopsen nach Feldhasen bei der Arbeit, zucken nach Blitzen im Gewitterhimmel, toben nach  ausgelassener Rauferei auf grünem Rasen.

Meine freiwillige soziale Askese beschert mir bei der Formulierung bestimmter Sachverhalte höchsten Genuss. Gleiches gilt auch für Bildeinfälle, die ich hier habe. Deshalb lebe ich hier an diesem Ort und ich kann nur hoffen, dass sich die Heilkraft für Seele und Körper, die hier zu bekommen ist nicht rumspricht, denn dann wird der Bürgermeister, der Herr R., sofort einen Kurort aus diesem Flecken machen und dann kommen der Golfplatz, das Casino, die Krankenkassen und die Rehazentren um die Ecke gelaufen.

Vielleicht sollte ich diesen blöden Brief von der Frau V. in den Papierkorb schmeißen. Und meine Kindheit dazu. Diese aus langer literarischer Vorzeit stammende Dramatik, veranlasste mich eine Bleistiftskizze zu entwerfen. Einen Papierkorb, der halbgefüllt mit zusammengeknülltem Schreibseiten gefüllt war. Einige der zusammengeknüllten Bögen lagen neben dem Papierkorb, der aus gewellten Blechstreifen zusammengeschweißt auf gerauteten Eichenparkett stand. Titel der Zeichnung: Kindheit im Papierkorb.

Wie gesagt, hier an diesem Ort kann ich gut  nachdenken. Von mir aus auch träumen. Das die Resultate dieser Tätigkeit bislang nicht oder nur sehr unzureichend verstanden wurden, erkläre ich mir damit, dass das irdische Publikum noch nicht in der Lage ist die Botschaft meiner Arbeiten zu erkennen.  Denn wie mir glaubhaft übermittelt wurde, werden meine Ausführungen auf dem Planeten Omega durchaus verstanden. Dort habe ich mittlerweile einen Kultstatus erreicht wie hier die Boygroup T.H. Dieser Fanclub da oben im Universum umfasst einen ganzen Planeten und er  liegt ungefähr  37.000 Lichtjahre zukunftskaliert im Orbitkosmos 1278. Das habe ich auf etlichen Seiten ausgerechnet. Morgens, mittags, nachmittags, abends, spätabends und wieder morgens.

Ich glaube manchmal, ich habe ein Herz aus Aluminium. Aluminiumherzen sind im Augenblick die Herzen, die weltweit Hightech vom Feinsten bieten. Die schlichteste Grundausstattung ist immer noch einer Orbit- Travel- Einheit überlegen.

Na ja. Das dachte ich, während ich weiter meinen Kaffee trank. Aluherzen sind leicht, sie arbeiten lautlos, haben aber den Nachteil, sich zu verlieben. Und dann funktionieren sie nicht mehr. Das ist so wie eine nasse Batterie, die gibt auch keinen Strom mehr. Die Forschung hat das erkannt und deshalb habe ich auch ein Austauschherz, ein Aluminiumherz mit positivem Schutzmantel. Zu Fragen nach Nebenwirkungen wenden Sie sich an Ihren Arzt oder Apotheker. Zum Glück brauche ich das nicht, denn ich habe in einer Nachschulung gelernt mein Aluherz mit Superschutz plus Garantie selbst zu warten.

Aha. Das eingegebene Passwort stimmt nicht. Geben Sie ihr Passwort neu ein. Ihr eingegebenes Passwort wird nicht als Passwort anerkannt. Das Passwort ist nicht korrekt. Das Passwort darf keine Absätze enthalten. Wenn Sie diese Datei herunterladen wollen, klicken Sie auf Okay. Okay ist kein gültiges Passwort. Passwort vergessen? Klicken Sie Passwort vergessen. @home. Basislager.de. Only for members.

Ich habe zwei Arbeitsräume, eine Küche, einen Flur, zwei Bade- und ein Gästezimmer, ich habe einen Garten und mein Auto hat vier Räder. Dazu noch eine alte und eine junge Katze, die sich nicht vertragen. Ich habe einen Bastelkeller und viele Werkzeuge. Die braucht man hier, wenn man überleben will. Meine Hauptbeschäftigung besteht darin meine Gedankenbilder auf die Leinwand zu malen oder aber, wenn es nicht anders geht, diese Bilder sprachlich festzuhalten. Mehr möchte ich im Augenblick zum Thema Kindheit nicht vortragen. Guten Tag und auf nimmer Wiedersehen.

© Constantin Hahm 2014